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Wie soll ich leben?

Wie soll ich leben?

Titel: Wie soll ich leben? Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Bakewell
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alle anderen extremen Gefühlszustände erschreckend. Ihm missfiel die Art und Weise, wie Julius Caesar seine Soldaten vor dem Kampf durch Reden anfeuerte:

    Nicht vom Waffenblitzen, auch vom Anblick nicht
    eurer Nächsten in des Gegners Reihen lasst euch
    rühr’n – zerfetzt mit eurem Schwerte ihr Gesicht!

    Von allen antiken Kriegshelden bewunderte Montaigne den thebanischen General Epaminondas am meisten, der seinen furor im Zaum zu halten wusste. Einmal, mitten in der Schlacht, «mit Blut und Eisen Schrecken verbreitend», stand Epaminondas einem Mann gegenüber, dessen Gastfreundschaft er genossen hatte. Er drehte sich um und tötete ihn nicht. Epaminondas erwies sich damit als «oberster Herr und Gebieter» des Kriegs, wie Montaigne schrieb. Er ließ «einen Abglanz von Gerechtigkeit in solche Kampfhandlungen fallen».
    Montaigne vermutete, dass die Tradition des furor oft instrumentalisiert wurde. «Entreißen wir den bösartigen Naturen, diesen Bluthunden und Verrätern, ihren Deckmantel der Staatsraison.» Grausamkeit war an sich schlimm genug, aber unter dem Vorwand geistiger Überlegenheit war sie noch schwerer zu ertragen. Vor allem beklagte Montaigne den Eifer religiöser Fanatiker, die glaubten, Gott verlange solche Akte der blinden Gewalt als Beweis für die Hingabe der Gläubigen.
    Auf die Grausamkeit hatte er einen «grausamen Hass». Sein Abscheu war instinktiv und so natürlich wie die Offenheit, die ihm ins Gesicht geschrieben stand. Daher auch seine Ablehnung der Jagd. Fast unerträglich war ihm der Anblick eines Huhns, dem der Hals umgedreht wird, oder eines «unter den Zähnen meiner Hunde» aufschreienden Hasen. Dieselbe Fähigkeit, die es ihm ermöglichte, die Perspektive seiner Katze einzunehmen, ließ ihn Tieren zugefügte Grausamkeit am eigenen Leib spüren.
    Er konnte keinen Hasen leiden sehen, noch mehr aber beklagte er menschliches Leid und die gerichtlich angeordnete Todesstrafe, die zu seiner Zeit gang und gäbe war. «Selbst in der Rechtsprechung» ist für ihn «alles, was über die einfache Tötung hinausgeht, schiere Grausamkeit». Als Parlamentsrat von Bordeaux lehnte er es ab, solche Strafen anzuordnen: «Ich scheue derart davor zurück, jemandem wehzutun, dass ich es nicht einmal im Dienste des Rechts über mich bringe; und als es meines Amtes war, Verbrecher abzuurteilen, habe ich eher die Gerechtigkeit zu kurz kommen lassen.»
    Mit seiner Missbilligung der Jagd und der Folter stand Montaigne zwar nicht allein, ungewöhnlich ist aber seine Begründung: seine innige Verbundenheit mit anderen Lebewesen. Bei der Begegnung mit den brasilianischen Indianern in Rouen verblüffte es ihn, dass sie Menschenals «Hälften voneinander» bezeichneten und sich beim Anblick reicher Franzosen, die «mit guten Dingen jeder Art geradezu vollgestopft waren», fragten, ob ihre «andern Hälften» vor ihrer Tür verhungert waren. Für Montaigne teilten alle Lebewesen ein Grundelement ihrer Existenz: «Es ist ein und dieselbe Natur, die auf ihrer Bahn dahinrollt.» Selbst wenn die Tiere uns weniger ähnlich wären, würden wir ihnen unser Mitgefühl schulden, einfach deshalb, weil sie lebendig sind.
    Wir sind zu einer gewissen Achtung und allgemein menschlichen Haltung ihnen [den Tieren] gegenüber verpflichtet – und nicht nur ihnen gegenüber, die Leben und Empfindung haben, sondern ebenso gegenüber den Bäumen und Pflanzen. Den Menschen schulden wir Gerechtigkeit, aller anderen Kreatur jedoch, die dafür empfänglich ist, Freundlichkeit und Wohlwollen. Es bestehen mancherlei Beziehungen zwischen ihnen und uns, und mancherlei wechselseitige Verbindlichkeiten.
    Dazu fühlte er sich in alltäglichen Begegnungen ebenso verpflichtet wie in Situationen, die über Leben und Tod entschieden. Wir schulden anderen Lebewesen jene kleinen Gesten der Freundlichkeit und Empathie, die Nietzsche als «Wohlwollen» bezeichnete. Der oben zitierten Passage fügte Montaigne die folgende Bemerkung über seinen Hund hinzu:
    Ich selbst bin aufgrund meiner kindlichen Natur so weichherzig (ich scheue mich nicht, es zuzugeben), dass ich meinem Hund das Herumtollen kaum verweigern kann, das er mir meist im unpassendsten Augenblick anbietet oder abzubetteln sucht.
    Er gibt dem Drängen seines Hundes nach, weil er dessen Perspektive nachvollziehen kann und nachempfindet, wie verzweifelt das Tier sich bemüht, sich die Langeweile zu vertreiben und die Aufmerksamkeit seines menschlichen Freundes zu gewinnen. Pascal

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