Wie Tau Auf Meiner Haut
Tempelbrüdern war der, dass sie Götzen
anbeteten, denn in jeder nach der Besetzung Jerusalems gebauten Kirche hatten
sie das Gesicht eines Mannes abgebildet. Es war ein ernstes, hageres Gesicht -
genau dasselbe Gesicht, das man vor Jahrhunderten als Abdruck auf dem
Leichentuch in Turin gefunden hatte.
Daraus folgte, dass man das Leichentuch geborgen hatte. Es folgte weiterhin,
dass der Fund im Tempel für seine Echtheit bürgte. Aber was hatten sie
außerdem noch gefunden? Der »Kelch« und das »Leichentuch« waren
aufgeführt, ebenso der »Thron« und die »Fahne«. Aber bei der »wahren Macht«
musste es sich um etwas anderes handeln, um etwas, was bisher noch nicht
beschrieben worden war.
»Der Hüter soll die Welt vor der Stiftung des Bösen in Schutz nehmen. «
Angesichts der ständigen Zweideutigkeiten seufzte Grace. Die Stiftung des Bösen
bezog sich offensichtlich auf den Teufel, aber warum hatte der Schreiber es dann
nicht auch so genannt? Anscheinend hatten selbst im Mittelalter die Schreiber
bereits zu einer ausschweifenden Redeweise geneigt.
Allein bei dem Wort Stiftung schweiften ihre Gedanken zu der guten, alten Zeit
zurück, in der Ford und Bryant auf der Suche nach auch noch dem kleinsten
Keramiksplitter vorsichtig die Erde durch ein Sieb rinnen ließen. Auf dem Boden
sitzend, hatten sie mit einem kleinen Pinsel von einem noch halbvergrabenen
Knochen die Erde abgestrichen. Alle drei hatten sie ihre Arbeit geliebt. Und die
Amaranthine Potere Stiftung war eine der wenigen Orte auf der ganzen Welt, wo
Archäologen eine feste Anstellung erhielten. Dank einer unabhängigen
Finanzierung konzentrierte sich die Stiftung nicht nur auf spektakuläre
Ausgrabungen, sondern auch auf kleine Projekte, die zwar keinerlei sensationelle
Neuigkeiten ans Licht brachten, aber den Wissensstand vertieften. Ford hatte
einmal gemeint, der Stiftung sei es ernst damit, kein Stück Erde auf der Welt
ungesiebt zu lassen. Unvermittelt richtete sich Grace auf, ihre Pupillen zogen sich
zusammen. Potere... bedeutete Macht. Potere Stiftung, die Stiftung der
unbeschränkten Macht. Warum nur war sie darauf noch nicht früher gekommen?
Immerhin waren Sprachen und Übersetzungen ihr Spezialgebiet. Es hätte ihr
schon lange auffallen sollen, sie hätte schon lange merken müssen...
Es war einfach verrückt. Eine riesige Stiftung sollte sich der Aufgabe
verschrieben haben, den Schatz des Tempelordens zu bergen? Die Kosten dafür
würden sicherlich jeden Goldfund übersteigen.
»Der Wert des Schatzes geht weit über das Gold hinaus«, flüsterte sie. Also ging
es nicht um das Geld, soviel stand bereits deutlich in den Dokumenten. Macht.
Die Tempelbrüder hatten über irgendeine geheimnisvolle Macht verfügt. Und sie
hatten ihr Leben hingegeben, ohne davon etwas preiszugeben.
Grace stand verwirrt auf und ging im Zimmer auf und ab, wobei sie die
verwirrende Vielfalt ihrer Gedanken zu ordnen versuchte. Konnte es das Ziel der
Stiftung sein, den Menschen die Kenntnis über diese Macht vorzuenthalten?
Glaubte Parrish vielleicht, er müsse jeden umbringen, der etwas über die
Dokumente erfahren hatte, um so das Geheimnis zu wahren?
Nein, diese Theorie hielt bei genauerem Hinsehen nicht stand. Denn zunächst
einmal hatte die Stiftung nichts, was sie hätte schützen müssen. Die Dokumente
waren bereits vor Jahrhunderten verschollen. Jeder mit Grundkenntnissen der
Archäologie wusste, dass die Dokumente aller Wahrscheinlichkeit nach die Zeit
nicht überdauert hatten. Papier verfiel schnell. Aus diesem Grund waren selbst
Dokumente von vor zweihundert Jahren rar, ganz abgesehen von solchen vor
über siebenhundert Jahren. Nein, sie musste jetzt jeden Gedanken an eine
geheimnisvolle Macht, den großen Kampf zwischen Gut und Böse, einfach
beiseite schieben. Sie war müde, und die Müdigkeit vernebelte ihr das Gehirn.
Das allerwahrscheinlichste Motiv war schlicht und ergreifend nur das Geld.
Parrish hatte offenbar Grund zu der Annahme, dass der Schatz des
Tempelordens jedes vorstellbare Ausmaß übertraf. Und als Direktor der Stiftung
konnte er für das Auffinden des Schatzes jede Summe einsetzen. Er musste
irgendeine Möglichkeit ausgetüftelt haben, wie er das Gold für seine Privatzwecke
nutzen konnte. Die Stiftung war vermutlich genau das, was sie zu sein schien,
nämlich eine archäologische Stiftung, der keinerlei böse Absichten zugrunde
lagen. Nicht die Stiftung als solche, sondern
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