Wie Tau Auf Meiner Haut
bedeckten
Seiten, die sie geschrieben hatte. »Ich habe die Arbeit«, murmelte sie. Ihre
eigene Stimme zu hören beruhigte sie. Sie mochte glauben, verrückt zu werden,
aber sie hatte immer noch ihre Arbeit. Acht Monate lang hatte die Arbeit ihr die
Kraft zum Überleben gegeben, sie würde es auch noch etwas länger tun, obwohl
der gälische Teil sie fast umgebracht hätte.
Noch ein oder zwei Wochen Arbeit, dann hätte sie die Geschichte des
Tempelordens und des Hüters, des Schwarzen Niall, fertig übersetzt. Wenn sie
nicht mehr tagtäglich Stunden mit Übersetzungen verbrachte, würden auch die
Träume von ihm aufhören.
Die Verzweiflung, die sie bei dieser Vorstellung überfiel, schockte sie. Ohne Niall
würde der letzte Lebensfunken, wenngleich er auch nur in ihren Träumen
aufflackerte, erlöschen. Noch nicht einmal unter einem falschen Namen würde sie
weiter Übersetzungsaufträge seitens einer anderen archäologischen Stiftung
annehmen können, dafür war sie viel zu bekannt. Sie würde nicht länger die
Puzzlestücke zusammensetzen können. Dennoch musste sie zugeben, dass sie
noch niemals von ihrer Arbeit so gefesselt gewesen war wie von Niall und den
Tempelbrüdern.
Jetzt war ihr einziges Ziel die Rache. Das Verlangen danach verzehrte sie, aber
sie spürte genau, dass es nach der Rache nur eine graue, öde Leere geben
würde, sollte sie ihren Racheakt denn überhaupt überleben. Den Rest ihres
Lebens würde sie ohne Identität und ohne ein Ziel vor Augen auf der Flucht
verbringen. Niemals würde sie das Glück genießen können, mit Ford Kinder zu
haben und gemeinsam mit ihm alt zu werden, ihre Enkel zu wiegen und vielleicht
Bryant dabei zu beobachten, wie er schließlich in einer liebevollen Ehe glücklich
wurde. Da zog sie es doch vor, verrückt zu werden.
Sie zog die gälischen Dokumente zu sich heran, öffnete das gälisch-englische
Lexikon und nahm ihren Kuli zur Hand.
Wie gewohnt wurde sie augenblicklich vom Zauber der Dokumente gefangen
genommen. Sie hatte das Gefühl, etwas außerordentlich Wichtiges und
Spannendes zu lesen. »Die Menschheit soll die wahre Macht nicht erfahren«, las
sie einige Minuten später. »Der Kelch und das Tuch sollen sie gegenüber der
Sonne blind machen, Thron und Fahne sollen ihnen verwehrt werden, aber die
wahre Macht soll in den Händen des Hüters liegen, die Zeiten überdauern, er soll
den Schatz vor allem Bösen bewahren. Einzig und allein der Schatz kann das
Böse besiegen, und niemand außer dem Hüter darf diese Macht benutzen. «
Es hörte sich wie eine Bibelpassage an, aber Grace war sich sicher, dass nichts
dergleichen in der Bibel stand. Der Kelch... das konnte eine Anspielung auf den
Kelch beim Abendmahl sein. Und das Tuch konnte auf das Leichentuch Christi
hinweisen. Das Leichentuch von Turin sollte angeblich das Leichentuch Christi
sein, was aber von mancher Seite angezweifelt wurde. Es war bereits lange vor
dem vierzehnten Jahrhundert erwähnt worden, während komplizierte
Meßmethoden seinen Ursprung auf ebendieses Jahrhundert datierten. Natürlich
konnten die älteren Hinweise sich auch auf ein anderes Leichentuch beziehen,
vielleicht sogar auf das echte... aber das erklärte nicht, warum ein Fälscher aus
dem vierzehnten Jahrhundert, fünf Jahrhunderte vor der Erfindung der
Fotografie, ein Tuch mit dem perfekten Negativabdruck des gekreuzigten Mannes
hatte anfertigen können.
»Der Kelch und das Leichentuch sollen sie der Sonne gegenüber blind machen«,
las sie noch einmal. Sollte dieses Leichentuch noch existieren, so war es bisher
nirgendwo aufgetaucht. Vielleicht aber machte die Diskussion um die Echtheit
des Leichentuchs die Menschen tatsächlich blind gegenüber dem wahren
Glauben. Sie waren viel zu sehr damit beschäftigt, Argumente und
Gegenargumente zu formulieren, um hinter den Detailfragen das Ganze noch
erkennen zu können.
Die Tempelbrüder waren unwiderruflich mit dem Leichentuch verknüpft. Sie
hatten gegen die Mauren gekämpft und Jerusalem zeitweise für die Kreuzritter
erobert. Auch später noch hatten sie den Tempel auf dem Berggipfel besetzt.
Während dieser Zeit hatten sie soviel wie nur möglich aus der Tempelanlage
ausgegraben. Dabei waren sie möglicherweise auf Dinge gestoßen, die auf die
Frühzeit des Tempels, also auf den Ursprung des Judaismus zurückgingen.
Welche Schätze hatten sie wohl dort gefunden... welchen Schatz?
Einer der Vorwürfe gegenüber den
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