Wie Tau Auf Meiner Haut
der Wand. Ihr Körper hatte sich
irgendwie aufgelöst, war ihr abhanden gekommen. Sie konnte nichts fühlen,
nichts denken. Ein dunkler Nebel behinderte ihre Sicht. Der unglaubliche Anblick
entfernte sich, als ob sie es vom Ende eines Tunnels aus beobachtet hätte. Sie
hörte sie mit merkwürdig verzerrten Stimmen miteinander reden.
»Hättest du nicht noch warten sollen? So wird es eine Diskrepanz beim Zeitpunkt
ihrer Tode geben. «
»Das ist unwichtig. « Sie erkannte Parrishs Stimme. »In einer Mord-Selbstmord-
Situation wartet der Mörder manchmal, bevor er sich selbst umbringt - oder sie
sich selbst umbringt, wie in unserem Fall. Der Schock, verstehst du. Was für ein
Jammer, ihren Ehemann und ihren Bruder direkt vor ihrer Nase in eine
homosexuelle Affäre verwickelt zu wissen. Kein Wunder, dass die Kleine
durchgedreht ist. «
»Und wie ist das mit der Freundin? «
»Ach ja, Serena-Sabrina. Pech für sie. Sie wird auf dem Nachhauseweg einen
Unfall erleiden. Ich warte hier auf Grace. Und ihr beide setzt euch ins Auto und
folgt Serena-Sabrina. «
Langsam hob sich der Nebel vor Graces Augen. Sie wünschte, er wäre geblieben.
Sie wünschte, gleich hier an Ort und Stelle zu sterben, wünschte, ihr Herz würde
einfach für immer stehen bleiben. Durch den Spalt in der Gardine hindurch
konnte sie ihren auf dem Rücken ausgestreckten Mann sehen. Er hatte die Augen
geöffnet, ohne etwas zu sehen. Seine dunklen Haare waren voller... voller...
Ein Geräusch stieg in ihr auf, ein fast lautloses Ächzen in ihrem Hals. Es war wie
das entfernte Heulen des Windes, dunkel und seelenlos. Der Schmerz bahnte
sich einen Weg aus ihrem Körper. Sie wollte den Laut zurückhalten, aber er kam
dennoch auf primitive, ursprüngliche Weise hervor. Parrish riss den Kopf herum.
Für den Bruchteil einer Sekunde - nicht länger - glaubte sie, dass sich ihre Blicke
getroffen hatten, dass er durch den schmalen Gardinenspalt in die Nacht hatte
blicken können. Er sagte etwas in scharfem Tonfall und raste auf das Fenster zu.
Grace entschwand in die Nacht.
Kapitel 2
Sie benötigte dringend Geld.
Durch den strömenden Regen hindurch fixierte Grace den Geldautomaten, der in
der Dunkelheit anziehend wie ein Tempel leuchtete und sie aufzufordern schien,
die Straße zu überqueren und den elektronischen Ritus zu vollziehen. Der
Geldautomat war kaum dreihundert Meter entfernt. Bis dorthin hätte sie
höchstens ein paar Minuten gebraucht, hätte die Ziffern eingeben und das Geld
in ihrer Hand haben können. Sie musste ihr Konto leeren. Wahrscheinlich hielt
ein Automat allein nicht genügend Bargeld bereit, so dass sie einen zweiten,
wenn nicht noch einen dritten aufsuchen müsste. Mit jedem Mal würde sich die
Gefahr, entdeckt zu werden, noch weiter vergrößern - ebenso wie die Gefahr,
Opfer eines Überfalls zu werden.
Die automatischen Kameras würden ihr Bild aufnehmen, und die Polizei würde
ganz genau wissen, wann sie wo gewesen war. Plötzlich trat ihr Fords Bild wieder
vor das innere Auge. Rasender Schmerz schüttelte sie. O mein Gott. Wieder
bahnte sich der unmenschliche, nicht zu unterdrückende Schrei ihre Kehle hinauf
und schlug gegen ihre zusammengepressten Zähne. Eine vorbeistreunende Katze
erstarrte bei diesem Wehlaut mit gesträubtem Fell und erhobener Pfote. Dann
wandte sich das Tier ab und entfernte sich eilig von dem zusammengekrümmten
Wesen, das einen solch schrecklichen Laut von sich gegeben hatte. Grace wiegte
sich wie ein Kind, verschloss den Schmerz tief in ihrem Inneren und zwang sich
zu logischem Denken. Ford hatte ihr Leben mit seinem bezahlt. Es wäre ein
unvorstellbarer Verrat gewesen, wenn sie sein Opfer durch eine falsche
Entscheidung zunichte machen würde.
Eine Vielzahl nächtlicher Geldabhebungen, alle nach dem geschätzten Zeitpunkt
des Verbrechens, würden den Anschein ihrer Schuld unweigerlich untermauern.
Kristian würde sich daran erinnern, wann genau sie das Haus der Siebers
verlassen hatte. Ungefähr zu dieser Zeit waren Ford und Bryant ermordet
worden. Beide lagen halb entkleidet in Bryants Schlafzimmer. Parrish hatte die
Situation mit der ihm eigenen Gründlichkeit inszeniert. Jeder Polizist würde
glauben, sie hätte ihren Mann und ihren Bruder bei einem homosexuellen
Schäferstündchen ertappt und beide umgebracht. Ihr Verschwinden war nur noch
ein weiteres Glied in der sie belastenden Beweiskette.
Die Männer, die Parrish bei sich hatte, waren
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