Wie Tau Auf Meiner Haut
aber war ihr
unerträglich. Er wollte unbedingt an die Dokumente kommen. Sie hatte mit
deren Übersetzung eben erst begonnen und kannte den der Papiere noch nicht.
Sie wusste nicht, was an ihnen so außerordentlich war, dass er Ford und Bryant
ermordet hatte und sie ebenfalls umbringen wollte, nur weil sie von der Existenz
dieser Dokumente wussten. Vielleicht vermutete Parrish, sie habe bereits mehr
übersetzt, als es tatsächlich der Fall war. Er wollte die Dokumente nicht nur
besitzen, er wollte, dass niemand von ihrem , ja, noch nicht einmal von ihrer
Existenz erfuhr. Was war in diesen Dokumenten verborgen? Weswegen hatten
ihr Ehemann und ihr Bruder sterben müssen?
Um diese Fragen zu beantworten, musste sie ihren Laptop schützen. Ihr
Computer enthielt all ihre Aufzeichnungen, ihre Tagebuchnotizen und ihre
Sprachprogramme, die sie bei ihrer Arbeit unterstützten. Sie könnte ihre
Übersetzung also fortsetzen. Und sie würde den Grund herausbekommen. Den
Grund.
Wenn sie sich jedoch erfolgreich verstecken wollte, so brauchte sie Geld.
Sauberes Geld, dessen Quelle man nicht zurückverfolgen konnte.
Sie musste sich ganz einfach zwingen, zu dem Automaten zu gehen. Sie musste
alles abheben, was noch im Automaten war - falls zu dieser späten Stunde
überhaupt noch etwas verfügbar war. Danach würde sie den nächsten Automaten
aufsuchen. Irgendwie hatte sie es geschafft, die Bibliothek zu verlassen und sich
an diesem dunklen Platz zu verbergen.
Ihre Finger waren jetzt taub und blutleer. Es war zwar immer noch fast zwanzig
Grad warm, sie war aber bereits seit mehreren Stunden durchnässt.
Sie hätte nicht sagen können, woher sie die Kraft nahm, sich wieder
aufzurichten. Doch auf einmal stand sie aufrecht, wenn auch wackelig auf den
Beinen und lehnte sich stützend gegen eine Wand. Sie stieß sich von dort ab,
und der Schwung ließ sie einige Schritte vorwärts torkeln. Das Entsetzen und die
Erschöpfung hatten sie jedoch nach wie vor fest in ihrem Griff. Wieder hielt sie
inne. Sie drückte die Plastiktüte gegen die Brust und spürte das beruhigende
Gewicht des Laptops. Der Regen rann ihr das Gesicht herunter, und eine dumpfe,
steinige Masse drückte auf ihr Zwerchfell. Ford, Bryant.
Herrgott.
Ihre Füßen kamen wieder in Gang, zwar stolpernd und schleppend, aber sie
konnte laufen. Mehr musste sie auch nicht tun. Die Handtasche hing ihr über der
Schulter und schlug gegen ihre Hüfte. Ihre Schritte verlangsamten sich, dann
blieb sie stehen. Ich Trottel! Es war wirklich ein Wunder, dass man sie bis jetzt
noch nicht überfallen hatte. War sie doch die ganze Zeit menschenleere Straßen
entlanggelaufen und hatte ihre Handtasche mit der Geldbörse offen getragen!
Sie sprang panisch und mit klopfendem Herzen in den Schatten zurück. Einen
Augenblick lang stand sie wie gelähmt und hielt unruhig in der Dunkelheit nach
einer jener lichtscheuen Gestalten Ausschau, die Nachts durch die Stadt
streiften. Doch die kleine Straße blieb leer. Sie atmete schwer. Sie war allein.
Vielleicht war ihr der Regen zu Hilfe gekommen, und die Obdachlosen, die
Junkies und die Straßenräuber hatten sich in ihre Unterschlupfe verkrochen. Sie
lachte in der Dunkelheit hysterisch auf. Obwohl sie in Minneapolis aufgewachsen
war, wusste sie nicht, welche Viertel man besser meiden sollte. Sie kannte ihre
Nachbarschaft, die Wege zur Universität, zu den Bibliotheken, zum Postamt, zum
Supermarkt, zu ihrem Arzt und Zahnarzt. Dienstlich hatten Ford und sie sechs
Kontinente und wer weiß wie viele Länder bereist, und sie hielt sich für gut
unterrichtet. Doch nun wurde ihr bewusst, wie wenig sie über ihre Heimatstadt
wusste, weil sie immer nur in ihre kleine, vertraute Welt eingesponnen gewesen
war.
Um jetzt zu überleben, würde sie wachsamer und klüger sein müssen. Da reichte
es nicht mehr aus, die Türen zu verriegeln, sobald man im Auto saß. Jetzt
musste sie auf alles gefasst sein, in jedem Winkel konnte die Gefahr lauern. Sie
musste bereit und fähig sein zu kämpfen. Sie würde wie die Straßenkinder das
Überleben trainieren müssen, sonst würde sie keine Woche auf der Straße
durchhalten.
Sorgfältig ließ sie die Scheckkarte in ihrer Tasche verschwinden und versteckte
sich wieder unter dem überhängenden Dach. Nachdem sie den wertvollen, in der
Plastiktüte versteckten Computer abgestellt hatte, öffnete sie ihre Handtasche
und ging den durch. Sie nahm alles Bargeld heraus und
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