Wie Tau Auf Meiner Haut
Profis in ihrem Metier. Sie waren
wohl kaum so nachlässig, Fingerabdrücke zu hinterlassen. Kein Nachbar würde
sich an vor dem Haus geparkte fremde Autos erinnern, denn sie hatten ihre
Wagen andernorts abgestellt und waren zu Fuß gekommen. Es gab weder
Zeugen noch Beweise, die auf irgend jemand anderen als auf sie hinwiesen.
Selbst wenn es ihr wie durch ein Wunder gelänge, die Polizei von ihrer Unschuld
zu überzeugen, hatte sie noch keinen Beweis dafür, dass Parrish der Täter war.
Sie hatte alles gesehen und konnte nichts beweisen. In der Logik der Polizisten
hatte er nicht einmal ein Motiv gehabt, während gegen sie viele
Verdachtsmomente sprachen. Welche Beweise hätte sie schon vorbringen
können? Einen Haufen Papiere in verschiedenen Altsprachen, die sie noch nicht
einmal entziffert hatte und die Parrish jederzeit von ihr einfach dadurch hätte
erhalten können, dass er sie darum gebeten hätte?
Es gab kein Motiv, jedenfalls keines, das sie hätte beweisen können. Wenn sie
jedoch jetzt aufgab, dann würde Parrish die Dokumente bekommen und sie
selbst ermordet werden. Dafür zumindest würde er sorgen. Er würde es so
aussehen lassen, als habe sie sich erhängt. Oder aber eine Überdosis Rauschgift
würde ihrem Leben ein Ende setzen, wobei die Frage, wie sie im Gefängnis an
das Gift gekommen war, einen Skandal auslösen würde. Wie auch immer, für sie
jedenfalls wäre das Ergebnis immer das gleiche. Sie musste am Leben bleiben,
sie durfte der Polizei nicht in die Hände fallen. Das war ihre einzige Chance, wenn
sie den Grund herausfinden wollte, warum Parrish die beiden Männer umgebracht
hatte - und wenn sie sich an ihm rächen wollte. Um jedoch in der Freiheit
überleben zu können, benötigte sie dringend Geld. Dazu wiederum musste sie
den Geldautomaten benutzen, auch wenn das den Verdacht gegen sie weiter
verstärken würde. Würde man ihr Geldguthaben einfrieren? Dafür wäre
vermutlich eine richterliche Verfügung notwendig. Das wiederum bedeutete einen
zeitlichen Vorsprung für sie, einen Vorsprung, den sie in diesem Moment gerade
dabei war zu vergeuden, indem sie hinter einer Mülltonne versteckt die Zeit
vertrödelte, anstatt endlich die Straße zu überqueren und soviel Geld wie möglich
abzuheben.
Doch sie fühlte sich benommen und unfähig, völlig normale Verrichtungen
auszuführen. Die dreihundert Meter zum Automaten hätten ebenso gut hundert
Kilometer sein können. Die schwarz glänzende Oberfläche des nassen Asphalts
spiegelte die fast unwirklich verzerrten Lichter: die bunten Farben der
Leuchtreklamen, das kalte Weiß der Straßenbeleuchtung, der ewig rot-gelb-
grüne Wechsel der Ampel, die einen nicht vorhandenen Verkehr regelte. Um zwei
Uhr morgens fuhr nur gelegentlich ein Auto vorbei. In den letzten fünf Minuten
war nicht ein einziger Wagen hier entlanggefahren. Kein Mensch war zu sehen,
also genau der richtige Zeitpunkt, um den Automaten zu benutzen. Doch sie
hockte immer noch da, wobei die überhängende Dachtraufe und die schwere
Mülltonne sie zumindest teilweise vor dem Regen schützten. Ihr Haar klebte am
Kopf, die feuchten Flechten hingen schlaff und schwer auf ihrem Rücken. Ihre
Kleider waren ebenfalls durchnässt, und obwohl es eine für Minneapolis
ungewöhnlich warme Nacht war, hatte die klamme Feuchtigkeit ihrem Körper alle
Wärme entzogen. Sie zitterte vor Kälte und drückte einen Müllbeutel gegen die
Brust. Es war einer jener kleinen Beutel, wie man sie in den Abfallkörben
öffentlicher Gebäude findet. Sie hatte ihn aus der öffentlichen Bibliothek
mitgenommen. Der Computer und die wertvollen Papiere waren so gut
geschützt. Als es zu regnen begonnen hatte, war sie um die Sicherheit der
kostbaren Dokumente sehr besorgt gewesen. Der einzige Schutz, der ihr
eingefallen war, war ebenjene Tüte. Möglicherweise war es keine besonders
kluge Idee gewesen, die Bibliothek aufzusuchen. Schließlich war es ein öffentlich
zugänglicher Ort, noch dazu einer, den sie regelmäßig aufsuchte. Andererseits,
wie oft würde die Polizei schon in Bibliotheken nach Mordverdächtigen suchen?
Parrish konnte sie durch den Gardinenschlitz hindurch jedenfalls nicht deutlich
erkannt haben. Aber der Gedanke war nicht abwegig, dass sie diejenige war, die
durch das Fenster hineingespäht und alles gesehen hatte. Bestimmt waren er
und seine Männer auf der Suche nach ihr. Aber selbst wenn Ford ihnen gesagt
hatte, dass sie in der
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