Wie Tau Auf Meiner Haut
Bibliothek sei, bezweifelte sie doch, dass die Männer
annehmen konnten, sie sei nochmals in die Bibliothek zurückgegangen, um sich
vor ihnen zu verstecken. Es war ja nicht einmal sicher, dass die Polizei zu diesem
Zeitpunkt überhaupt schon von dem Doppelmord wusste. Parrish konnte keine
Anzeige erstatten, ohne dass auch er verdächtigt wurde. Daran aber konnte ihm
nicht gelegen sein. Die Nachbarn wiederum hatten nichts gehört, da die Pistolen
mit Schalldämpfer ausgerüstet gewesen waren. Aber vermutlich war die Polizei
doch schon unterrichtet. Parrish konnte nicht zulassen, dass Tage vergingen, ehe
die Leichen - ihr Herz zog sich bei diesem Wort zusammen, aber sie zwang sich,
den Gedanken fortzusetzen - entdeckt wurden. Konnten Polizei und
Gerichtsmedizin bei der Spurensuche feststellen, ob Schalldämpfer benutzt
worden waren? Wohl kaum. Parrish brauchte also nur von »verdächtigen
Geräuschen wie Pistolenschüsse«, zu erzählen und ihre Adresse anzugeben. Die
Spur des Anrufers würde sich nicht zurückverfolgen lassen.
Demnach wurde sie also gesucht: von Parrish und seinen Helfershelfern und von
der Polizei. Trotzdem hatte sie das Hauptgebäude der Bibliothek betreten. Der
Instinkt hatte sie dorthin gelenkt. Starr vor Schock und Entsetzen wirkte die ihr
vertraute Bibliothek wie ein schützender Hafen. Der Geruch der Bücher, diese
eigenartige Mischung aus Papier, Leder und Druckerschwärze, gab dem Ort
etwas Feierliches, Beruhigendes. Wie vor den Kopf geschlagen war sie zunächst
zwischen den Regalen umhergeirrt und hatte sich die Bücher angesehen, die
noch bis vor wenigen Stunden ihre ganze Welt gewesen waren. Sie hatte
versucht, ein Gefühl der Sicherheit und der Normalität wiederzuerlangen.
Vergeblich. Nichts würde jemals wieder so sein wie zuvor. Schließlich war sie in
den Waschraum gegangen und hatte bestürzt ihr Gesicht im Spiegel betrachtet.
Diese Frau mit dem kreidebleichen Gesicht und den hohlen Augen war nicht sie.
Das konnte nicht Grace St. John sein, die ihr Leben in der akademischen Welt
verbracht und es dem Entziffern und Übersetzen altertümlicher Dokumente
gewidmet hatte. Die Grace St. John, die sie kannte und die sie unzählige Male in
anderen Spiegeln gesehen hatte, hatte fröhliche blaue Augen und entspannte
Gesichtszüge - die Züge einer Frau, die liebte und im Gegenzug geliebt wurde.
Ja, sie war zufrieden gewesen, auch wenn sie vielleicht ein wenig zu füllig war,
um ein Titelbild für ein Hochglanzmagazin abzugeben. Was machte das schon?
Ford hatte sie geliebt, und das allein war es, was in ihrem Leben zählte. Doch
Ford war jetzt tot.
Das konnte nicht wahr sein. Das entsprach nicht der Wirklichkeit. Nichts von
dem, was geschehen war, war tatsächlich geschehen. Wenn sie die Augen
zumachte, würde sie vielleicht in ihrem Bett aufwachen und feststellen, dass alles
nur ein böser Traum gewesen war oder dass sie einen Nervenzusammenbruch
erlitten hatte. Das wäre ein guter Tausch, dachte sie und kniff ihre Lider
zusammen. Jede Situation wäre besser als die, in der sie sich zur Zeit befand.
Sie versuchte es. Sie presste die Augen zusammen und konzentrierte sich auf die
Vorstellung eines Alptraums und darauf, dass sie aufwachen würde und alles
wieder gut sein würde. Als sie jedoch die Augen wieder aufschlug, war alles noch
genauso schrecklich wie zuvor. Noch immer starrte sie auf ihr trostloses, vom
kalten Licht der Neonröhre erleuchtetes Gesicht, und Ford war immer noch tot.
Ford und Bryant, Ehemann und Bruder. Die beiden einzigen Menschen auf der
Welt, die sie liebte und von denen sie geliebt worden war. Sie waren beide fort,
waren unwiderruflich und für immer gegangen. Keine Macht der Welt konnte sie
wieder zurückbringen. Sie fühlte sich, als ob ihr Innerstes mit ihnen zusammen
gestorben war. Sie empfand sich nur noch als eine leere Hülle und wunderte sich,
wieso das Gerüst aus Fleisch und Knochen, das sie aus dem Spiegel anstarrte,
nicht vor ihren Augen zusammenklappte.
Doch als sie sich selbst in die Augen blickte, fand sie den Grund dafür, warum sie
nicht zusammengebrochen war. Sie war nicht so leer, wie sie angenommen
hatte. Da war noch etwas in ihr, etwas Wildes und Bodenloses: eine barbarisch
rohe Verquickung aus Schrecken, Wut und Hass. Sie musste gegen Parrish
kämpfen, koste es, was es wolle. Wenn Parrish oder die Polizei sie aufspürten,
dann hätte Parrish das Spiel für sich gewonnen. Diese Vorstellung
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