Wie Tau Auf Meiner Haut
müssen. Damit aber
würde sie genau die Aufmerksamkeit erregen, die sie um jeden Preis vermeiden
wollte. Es blieb ihr momentan nichts anderes übrig, als zu Fuß zu gehen. Die
körperliche Auseinandersetzung und die anschließende Flucht hatten zunächst
ihren Adrenalinspiegel hochgetrieben und Kräfte freigesetzt, doch jetzt begann
sie sich entsetzlich schwach zu fühlen. Ihre Knie zitterten beim Gehen auf der
düsteren Landstraße. Die wertvolle Tasche presste sie mit beiden Händen an
sich. Sie konnte selbst kaum glauben, was sie eben getan hatte. Noch nie in
ihrem Leben hatte sie einen anderen Menschen geschlagen. Sie hatte sogar noch
niemals auch nur mit dem Gedanken gespielt, mit körperlichem Einsatz zu
kämpfen. Sie hatte jedoch nicht gekämpft, sondern den Kampf sogar gewonnen.
Ein wilder, dumpfer Triumph stieg in ihr auf. Zwar hatte sie lediglich etwas Glück
gehabt, dabei allerdings eines gelernt: Sie konnte einen Kampf gewinnen. Die
damit überschrittene Grenze mochte nur einen einzigen Schritt bedeuten,
dennoch spürte sie eine tief greifende innerliche Veränderung. Statt angstvoller
Lähmung fühlte sie sich innerlich gestärkt.
Durch die Baumzweige hindurch flackerte ein Licht, ein Auto kam auf sie zu.
Grace drehte der Straße sofort den Rücken, konnte aber wegen der Dunkelheit
nicht rennen. In ihrer Lage konnte ein verstauchter Knöchel bereits über Leben
und Tod entscheiden. Sie eilte auf die schützenden Bäume zu, die jedoch weiter
als angenommen entfernt waren. Das Auto näherte sich schnell, das Licht wurde
immer heller. Plötzlich rutschte Grace auf dem feuchten Unkraut aus und fiel
kopfüber auf die Computertasche. Mit schreckgeweiteten Augen blickte sie sich
um und sah das Auto auf sich zukommen. Grace duckte den Kopf und lag
regungslos im Gras. Hoffentlich konnte das spärliche Unkraut sie verstecken.
Sie hatte das Gefühl, als wären die grell leuchtenden Autolampen auf sie
gerichtete Suchscheinwerfer. Aber das Auto raste, ohne im geringsten zu
verlangsamen, vorbei und ließ sie im Dunklen zurück. Ihre Kleider waren kalt
und nass geworden, harte Gräser hatten ihr das Gesicht zerkratzt, und ihr Körper
schmerzte vom heftigen Aufprall auf die Tasche. Wieder raffte sie sich auf. Ihre
ungeschickten Bewegungen zeugten jedoch von den in letzter Zeit erlittenen
zahlreichen Prellungen.
Jeder Schritt entfernte sie weiter von Minneapolis, von ihrem Zuhause, ihrem
Leben - aber nein, sie hatte kein Zuhause, kein Leben mehr. Jeder Schritt
entfernte sie auch von Parrish und bedeutete größere Sicherheit. Eines Tages
würde sie hierher zurückkommen und ihm die Stirn bieten, allerdings erst dann,
wenn sie ihn erfolgreich bekämpfen konnte. Die Kälte, die Schmerzen, die
Schürfwunden, die verkrampften Muskeln und die gähnende Leere dort, wo
einmal ihr Herz gewesen war, spürte sie nicht. Sie ging einfach immer nur weiter
geradeaus.
Abhöreinrichtungen waren eine wahrlich wundervolle Erfindung. Conrad erfuhr
viel aus dem Polizeifunk. Er kannte alle Codes und verstand den Polizeijargon.
Die polizeiliche Logik war für ihn ausschlaggebend, deshalb hatte er für ihr
Studium einiges an Zeit aufgewandt. Wenn man in der kriminellen Welt einen
Überblick bewahren wollte, musste man Polizeifunk hören, denn viele Verbrechen
fanden in den Medien überhaupt keine Erwähnung. Dort interessierte man sich
nur für dramatische oder skurrile Ereignisse oder aber für Themen, die sich
politisch ausschlachten ließen. Conrad kannte die Orte, an denen die Polizei
wiederholt auftauchte, um Streitigkeiten zwischen den Bewohnern zu schlichten.
Er kannte die Drogenumschlagplätze und die Rotlichtviertel. Mit gesteigertem
Interesse verfolgte er die Polizisten zu einem untypischen Einsatzort. Dann
klangen ihre Stimmen angespannter, man spürte förmlich ihren erhöhten
Adrenalinspiegel.
Die Stadt kam niemals zur Ruhe, wurde niemals ganz still. Irgendein Verbrechen
war immer am Laufen. Auf dem Land war es ruhiger, dort fingen seine
Abhöreinrichtungen viele Routinemeldungen auf. Für die ländlichen Gebiete
benötigte er wegen der größeren Entfernung besondere Verstärker. Obwohl er
hier weniger Information als im Stadtgebiet abfing, bereute er die Investition in
die Anlage keineswegs. Was auch immer im Umkreis von hundert Kilometern
geschah, sollte sich nicht seiner Kenntnis entziehen.
Conrad liebte es, im Bett liegend, alle Abhörgeräte gleichzeitig laufen
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