Wie Tau Auf Meiner Haut
Conrad an der Tankstelle auf. Nach Mitternacht war
es ruhig und keine weiteren Kunden in Sicht. Conrad fuhr an der Zapfsäule vor,
stellte das Auto ab und ging auf das kleine, hell erleuchtete Büro des Tankwarts
zu. Der Tankwart beobachtete ihn aufmerksam. Auf seinem frettchenhaften
Gesicht spiegelte sich eine Mischung aus Misstrauen und Erwartung. Conrads
Erscheinung gefiel ihm, ähnlich wie den meisten Menschen, nicht, aber
andererseits wollte er seine Geschichte gerne noch einmal loswerden.
Conrad zückte im Gehen seine Brieftasche und fischte einen Zwanzigdollarschein
heraus. Er wollte Informationen kaufen, kein Benzin.
Beim Anblick des Geldes entspannte sich der Tankwart. Conrad betrat die Bude,
legte den Geldschein auf die Theke, hielt ihn jedoch fest, als der Tankwart seine
Hand danach ausstreckte. »Heute Nacht war eine Frau hier«, begann Conrad.
»Das Scheinchen ist für die Antworten. «
Der Tankwart blickte erst den Schein, dann Conrad an.
»Ein Pfund ist nicht gerade viel Geld. «
»Ich habe auch nicht viele Fragen. «
Der Tankwart glaubte, es wäre eine schlaue Idee, noch mehr aus dem Affen
rauszuholen. »Was wollen Sie denn wissen? « nuschelte er.
»Ihre Haarfarbe. «
»Ihre Haarfarbe? « Er zuckte mit den Achseln. »Dunkel. Habe ich alles schon
dem Streifenpolizisten erzählt. «
»Wie lang? «
»Das hat keine Stunde gedauert. «
Conrad unterdrückte das plötzliche Bedürfnis, auch diesem Mann den Kehlkopf
einzudrücken.
Leider war dieser Kerl hier kein sozialer Außenseiter. Sein Tod würde Fragen
nach sich ziehen, und Conrad wollte die Polizei nicht auf die Spur von Grace St.
John lenken.
»Ihr Haar. Wie lang waren ihre Haare? «
»Ach so, die waren in so etwas zum Zusammenhalten. Sie wissen schon, was ich
meine. «
»Ein Haarband«, offerierte Conrad.
»Ja, genau. «
»Danke. « Conrad zog seine Hand von dem Geldschein zurück, verließ den Laden
und ging langsam zu seinem Auto zurück. Weitere Fragen erübrigten sich. Bei
der Frau handelte es sich zweifelsfrei um Grace St. John. Sie musste Minneapolis
und den Staat Minnesota verlassen. Sie war in Richtung Osten geflohen,
vermutlich nach Eau Ciaire, der nächstliegenden Stadt. In der anonymen
Atmosphäre einer Stadt würde sie weniger Aufmerksamkeit erregen.
Er könnte ihr unterwegs begegnen, obwohl sie sich Nachts vor seinen
herannahenden Scheinwerfern besser verstecken konnte. Vielleicht ging sie auch
tagsüber weiter, aber das bezweifelte er. Sie brauchte Ruhepausen. Tagsüber
musste sie zudem befürchten, entdeckt und erkannt zu werden. Ob sie
versuchen würde, per Anhalter nach Eau Claire zu kommen? Auch das
bezweifelte Conrad. Sie gehörte der Mittelschicht an und hatte die instinktive
Angst aller Vorstädter. Bestimmt hatte man ihr schon als Kind erzählt, wie
gefährlich es ist, Anhalter mitzunehmen oder selbst per Anhalter zu fahren.
Außerdem war sie schlau: eine Anhalterin fällt auf. Sie dagegen wusste, dass sie
unter gar keinen Umständen auffallen durfte.
Der Tankwart musste sie irgendwie belästigt haben, sonst hätte sie sich schon
aus diesem Grund niemals auf eine Auseinandersetzung mit ihm eingelassen.
Vielleicht fror sie, war mit den Nerven am Ende, vielleicht war sie sogar verletzt.
Vielleicht hatte sie sich auch irgendwo einfach auf den Boden fallen lassen und
war zu entmutigt, um weiterzugehen. Sie war ganz in seiner Nähe, aber er hatte
keine Möglichkeit, sie jetzt aufzuspüren. Dazu hätte er schon Spürhunde
einsetzen müssen, die erst recht Aufmerksamkeit erregen würden. Daran lag
Conrad genauso wenig wie Grace. Die Polizei und die Medien sollten nicht noch
mehr Interesse zeigen, als es ohnehin schon der Fall war.
Seiner Schätzung nach würde sie, vorausgesetzt ihr würde nichts passieren, noch
mindestens zwei weitere Tage nach Eau Claire benötigen. Da sie sich von den
Autobahnen fernhielt und lediglich Landstraßen benutzte, würde sie auf
verschiedenen Routen nach Eau Claire kommen können. Das erschwerte zwar
seine Aufgabe, machte sie aber keinesfalls unmöglich. Er konnte die
wahrscheinlichen Wege auf zwei eingrenzen, die er beide überwachen würde.
Dazu allerdings brauchte er Unterstützung. Es musste jemand sein, der nicht
gleich losballerte und sich schnell auf eine veränderte Situation einstellen konnte,
ohne dabei gleich in Panik zu geraten. Er ließ die möglichen Kandidaten in
Gedanken Revue passieren und entschied sich für Paglione,
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