Wie Tau Auf Meiner Haut
angemessen war.
»Ich glaube nicht. «
»Lange oder kurze Ärmel? «
»Kurze, glaube ich, weiß es aber nicht genau. « Er rang nach Luft. »Sie trug so
eine Mülltüte im Arm, da konnte ich ihre Arme nicht genau erkennen. «
Keine Jacke und kurze Ärmel. Sie musste bis auf die Haut durchgeweicht sein
und sehr frieren. Conrad verschwendete keine Überlegung darauf, was in der
Mülltüte sein mochte. Schließlich war es eine nahe liegende Methode, um Papiere
trocken aufzubewahren. Parrish Sawyer würde zufrieden sein.
Sie hatte sich Geld aus einem Automaten gezogen, und der Mistkerl vor seiner
Nase hatte sie umgehend überfallen. Sie hatte weder Geld noch einen
Unterschlupf. Conrad würde sie binnen eines Tages gefunden haben, falls die
Polizei ihm diese Arbeit nicht schon abgenommen hatte. Obwohl Parrish Sawyer
alles im Griff hatte, falls sie ihn beschuldigen sollte, wollte Conrad sie doch gerne
persönlich aufspüren. Das würde die Sache insgesamt etwas erleichtern.
Er betrachtete das Wrack auf dem Stuhl. Der Penner dort hatte nichts, was seine
Sympathie hätte wecken können, weder Verstand noch irgendwelche moralischen
Werte noch sonst irgendwelche Werte. Eine Kugel wäre zu kostbar, um das
Leben eines solchen Wurms zu beenden. Außerdem ginge das viel zu schnell.
Conrad drückte mit seiner behandschuhten Hand dem Kerl die Luftröhre zu. Er
ließ den Erstickenden auf seinem Stuhl zurück und verließ das leer stehende
Haus in dem berüchtigtsten Viertel der ganzen Stadt. Er ging ruhig, ohne jede
Eile. In dieser Gegend waren Schreie nichts Ungewöhnliches. Kein Mensch nahm
auch nur die geringste Notiz von ihm.
Kapitel 4
Entfernung war eine relative Angelegenheit, eine Tatsache, die Grace erst noch
begreifen musste. Eau Ciaire, Wisconsin, lag nicht weit von Minneapolis entfernt,
sofern man mit dem Auto fuhr. Man brauchte ein oder zwei Stunden, je
nachdem, welchen Ausgangpunkt in Minneapolis man nahm und mit welcher
Geschwindigkeit man die Strecke zurücklegte. Mit dem Flugzeug war es ohnehin
nur ein Katzensprung. Zu Fuß aber und weil sie sich ständig verbergen musste,
brauchte sie dafür ganze drei Tage.
Sie hatte sich nicht getraut, den Bus zu nehmen. Mit ihren langen Haaren und
der Computertasche lief sie Gefahr, erkannt zu werden. Sie ging davon aus, dass
die Polizei alle öffentlichen Verkehrsmittel überwachte, da sie wusste, dass sie
nicht länger motorisiert war. Auch Parrish würde sie wahrscheinlich verfolgen,
und der brauchte noch nicht einmal ein Fahndungsfoto, um sie zu erkennen.
Sie handelte in einem Vakuum, weil sie nur dort überhaupt handeln konnte. Über
bislang vollkommen selbstverständliche Dinge wie Wärme, Wasser und eine
Toilette verfügte sie nun auf einmal nicht mehr. Immerhin hatte sie Geld, und es
gab überall Läden, die sie allerdings wegen der Überwachungskameras besser
nicht betrat. Essen dagegen war kein Problem, denn sie hatte ohnehin nicht den
geringsten Hunger.
Sie sah nicht nur aus wie eine Obdachlose, sie war eine Obdachlose. Eine Weile
lang war sie Richtung Norden gegangen, dann jedoch nach Osten abgebogen. Sie
lief parallel zu den Landstraßen anstatt direkt an ihrem Rand entlangzugehen, wo
man sie viel eher hätte bemerken können. Ihr war bislang nicht klar gewesen,
wie wenige Menschen zwischen Minneapolis und Eau Claire wohnten. Wäre sie
entlang der Autobahn gegangen, so hätten zumindest an den wenigen
Ausfahrten Motels oder Imbisse gelegen. Abseits der Autobahn jedoch gab es nur
ein paar verstreute Häuser und ab und an eine Tankstelle.
Um halb elf in der zweiten Nacht ihrer Flucht betrat sie eine Tankstelle und
verlangte den Schüssel für die Toilette. Der Tankwart blickte sie gelangweilt und
feindselig an und meinte nur: »Verpiss dich! « Bis zur nächsten Tankstelle
dauerte es über eine Stunde. Der zweite Tankwart war noch unverschämter und
drohte die Polizei zu rufen, wenn sie nicht auf der Stelle verschwände.
Sie musste sich aber dringend erleichtern, außerdem zitterte sie vor Kälte. Mit
leerem Blick wandte sie sich ab und verließ die Tankstelle. Sie überquerte den
Parkplatz und fühlte, wie der Tankwart jede ihrer Bewegungen beobachtete. Als
sie wieder die Böschung der Landstraße erreichte, drehte sie sich noch einmal
um und sah, dass der Tankwart wieder zu der Zeitschrift gegriffen hatte, bei
deren Lektüre sie ihn mit der Bitte um den Schlüssel gestört hatte. Sie machte
kehrt und
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