Wie Tau Auf Meiner Haut
Eau
Claire hatte sie die notwendigen Informationen gefunden, die sie für diese neue
Identität brauchte.
Es schien alles vergleichsweise einfach, wenn auch zeitaufwendig. Zunächst
benötigte sie eine Tote, jemanden, der in etwa zur selben Zeit wie sie selbst
geboren, jedoch so jung verstorben war, dass keinerlei Schulzeugnisse,
Arbeitszeugnisse oder begangene Verkehrswidrigkeiten in den Akten verzeichnet
waren, die Grace belasten würden, nachdem sie die Identität des fremden
Mädchens angenommen hatte. Wenn sie erst einmal einen Namen hatte, konnte
sie der entsprechenden Stelle in der Hauptstadt schreiben und um eine
Geburtsurkunde bitten. Mit einer Geburtsurkunde konnte sie eine
Sozialversicherungsnummer erhalten, damit wiederum konnte sie einen
Führerschein bekommen, eine Bankverbindung aufnehmen und ein neuer Mensch
werden.
Sie verwahrte den Seesack in einem Schließfach und verstaute den Schlüssel in
ihrer Hosentasche. Dann suchte sie im Telefonbuch nach einer Aufstellung aller
Friedhöfe. Nachdem sie sich die Namen notiert hatte und einen Angestellten nach
dem nächstgelegenen Friedhof gefragt hatte, ging sie zu einer anderen Person,
einem Reiseveranstalter, und fragte ihn nach dem Weg.
Zwei Stunden später und nach fünf Busfahrten kehrte sie auf den Busbahnhof
zurück.
Sie kaufte sich eine Zeitung, setzte ihre Sonnenbrille auf und durchsuchte die
Kleingedruckten Wohnungsanzeigen. Sie wollte nichts vollkommen Abgetakeltes,
etwas Anständiges konnte sie sich jedoch nicht leisten, sie musste also die
unterste Mittelklasse anstreben. Beim Preisvergleich überflog sie sowohl die
teuren als auch die ganz billigen Angebote und notierte auf diese Weise einige
Angebote in der mittleren Preisklasse. Zwei Pensionen setzte sie ganz oben auf
ihre Liste. Nach zwei Telefonaten hatte sie eine Bleibe und genaue Anweisungen,
wie sie mit der Hochbahn und den Bussen dorthin kommen konnte.
Das Beste an einer Großstadt war ihr innerstädtisches Verkehrssystem, dachte
sie, während sie zu der Hochbahnstation lief. Mit den Bussen war es ein leichtes
gewesen, den Friedhof zu erreichen. Zu der Pension hätte sie laufen können. Vor
einer Woche noch hätte sie die Entfernung abgeschreckt, aber jetzt erschienen
ihr fünf Meilen geradezu ein Katzensprung. Fünf Meilen konnte sie locker in
anderthalb Stunden zurücklegen. Aber Busse und Bahnen waren billig und
schnell, warum sollte sie also laufen? Eine halbe Stunde später stieg sie aus der
Bahn und erreichte gerade noch rechtzeitig ihren Bus, weitere fünf Minuten
später lief sie die Straße hinunter und suchte die Hausnummern ab.
Die Pension war in einem breiten, klobigen, dreistöckigen Gebäude
untergebracht, das schon seit Jahren keinen neuen Anstrich mehr gesehen hatte.
Der fast ein Meter hohe Palisadenzaun trennte den schiefen, winzigen
Rasenflecken von dem brüchigen Gehweg. Ein Eingangstor fehlte. Grace ging bis
an die Tür und drückte auf die Klingel.
»Ja? « Die Stimme war dieselbe wie am Telefon: tief und heiser, aber dennoch
weiblich.
»Ich hatte wegen des Zimmers angerufen... «
»Ja, klar«, unterbrach die Frau sie barsch. Grace wartete und hörte, wie sich
schwere Schritte der Tür näherten. Grace hatte sich unmittelbar nach ihrer
Zeitungslektüre die Sonnenbrille wieder aufgesetzt. Für diesen Schutz war sie
jetzt unendlich dankbar, als die Tür geöffnet wurde und einer der erstaunlichsten
Menschen zum Vorschein kam, den sie jemals gesichtet hatte. Zumindest konnte
die Frau nicht sehen, wie sehr sie sie anstarrte.
»Nun, stehen Sie nicht einfach nur herum«, sagte die Hausherrin ungeduldig,
und Grace betrat wortlos den Flur. Schweigend schloss die Frau - Grace war sich
ihres Geschlechts plötzlich gar nicht mehr so sicher - die Tür und polterte den
Weg zurück, den sie gekommen war. Grace folgte ihr, in der Hand ihren Seesack.
Die Frau war gut ein Meter achtzig groß, langgliedrig und schlaksig. Ihr Haar war
platinblond gefärbt und stand in kurzen Stacheln vom Kopf ab. Ihre Haut war
weich und hatte eine blassbraune Farbe, wie stark geweißter Kaffee, was auf
eine exotische Herkunft schließen ließ. Ein riesiger Ohrring in der Form einer
Sonnenblume baumelte von ihrem einen Ohr, während das andere von einer
Reihe von kleinen Ohrsteckern geziert wurde. Ihre Schultern waren breit und
knochig, ihre Füße und Hände groß. Die Füße erschienen durch die Wanderstiefel
und die dicken Socken noch
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