Wie Tau Auf Meiner Haut
Turnschuhe, ein dunkelblaues Sweatshirt. Auch an ihrem Gepäck war
nichts Auffallendes. Ein billiger Nylonseesack in einem besonders unattraktiven
Braunton, den der Hersteller vergeblich mit einem roten Streifen aufzulockern
versucht hatte.
Etwas ungewöhnlich war möglicherweise die Tatsache, dass sie während der
ganzen Fahrt eine Sonnenbrille getragen hatte, wo doch die Busscheiben ohnehin
abgedunkelt waren. Aber noch ein anderer Reisender trug während der gesamten
Fahrt eine Sonnenbrille. Keiner würde also auf sie besonders aufmerksam
werden.
Als der Bus auf dem Busbahnhof in Chicago einfuhr, holte Grace ihren
Gepäckschein hervor und nahm ihren hässlichen braunen Seesack in Empfang.
Sie hätte ihren Laptop lieber die ganze Zeit bei sich getragen, aber den meisten
Menschen fiel es auf, wenn jemand einen Computer ständig mit sich
herumschleppte. Deshalb hatte sie den Computer in seiner Tasche verstaut und
ihn dann mit ihren wenigen Kleidungsstücken im Seesack abgepolstert.
Jetzt war es genau eine Woche her, seit ihre Welt zerbrochen war, ganz genau
eine Woche.
Ihr Leben hatte aufgehört, und ein neues Leben hatte begonnen. Sie fühlte sich
nicht mehr wie dieselbe Person, sie sah nicht mehr so aus, ihre Gedanken waren
nicht mehr die gleichen wie vor ihrem Verlust und der Tatsache, dass sie auf der
Flucht war. Ein scharfes Messer hing, von ihrem Sweatshirt verdeckt, in einer
Halterung an ihrem Gürtel. Der Schraubenzieher, den sie an jenem schrecklichen
ersten Tag ihrer Flucht aus dem Lagerhaus mitgenommen hatte, steckte in ihrer
rechten Socke. Er war als Waffe zwar nicht so gut geeignet wie das Messer, aber
sie hatte ihn mit einem Stein geschliffen und war mit seiner Schärfe zufrieden.
Das Angebot der Bibliothek hatte sie in Bezug auf die Tempelbrüder vollkommen
ausgeschöpft. Sie hatte eine Menge gelernt, unter anderem die Bedeutung des
Datums, an dem der Orden zerstört worden war: Freitag, der 13. Dies war der
Anfang des Aberglaubens über die Verbindung zwischen Tag und Datum. Das
waren zwar alles interessante Details, jedoch nicht das, was sie suchte. Sie fand
keine Erwähnung, entweder in den niedergeschriebenen Notizen des Ordens oder
aber in der Geschichte Schottlands, von Niall von Schottland. Sie musste ihre
Nachforschungen vertiefen. Chicago hatte eine riesige gälische Bücherei, ein
guter Ausgangspunkt also. Noch einen weiteren Tag in Eau Claire zu bleiben
wäre ohnehin riskant gewesen. Parrishs Männer würden ihre Spur außerhalb von
Eau Claire suchen, aber wenn sie nichts gefunden hatten, würden sie
zurückkehren. Jeder auch nur halbwegs erfahrene Typ würde die Motels
durchsuchen. Obwohl sie vorsichtig war und entweder eine blonde Perücke oder
aber eine Baseballkappe trug, würde man sie doch irgendwann einmal
entdecken. Sie fühlte sich jetzt stabiler, da sie nicht mehr unter einer kaum
kontrollierten Panik operierte. Dennoch war sie äußerst wachsam. Sie hatte
geschlafen, und sie hatte sich zu mindestens einem Erdnussbuttersandwich am
Tag gezwungen. Essen fiel ihr immer noch schwer, und ihre Jeans saßen noch
lockerer als zuvor, so dass sie gezwungenermaßen einen Gürtel tragen musste.
Die Jeans hatte sie sogar in kochendem Wasser gewaschen, damit sie etwas
eingingen. Wenn überhaupt, so waren sie wohl eher in der Länge eingegangen,
denn die Hose schlackerte nach wie vor an ihr herum. Wenn sie noch weiter
abnahm, würde auch der Gürtel nichts mehr nützen. Sie beabsichtigte nicht,
noch mehr von ihrem wertvollen Geldvorrat für Kleidung auszugeben. Also
musste das genügen, was sie sich bisher zugelegt hatte. Sie hatte einen Plan
gemacht. Anstatt von ihrem Geldvorrat zu leben, bis er ganz aufgebraucht war,
würde sie sich eine Arbeit suchen. In Chicago gab es alle mögliche
Schwarzarbeit, zum Beispiel Teller waschen oder in einem Haushalt putzen
gehen. Beides würde ihr nichts ausmachen. Niemand würde sich wundern, wenn
sie eines Tages nicht zur Arbeit erscheinen würde. Andererseits wurden diese
Arbeiten schlecht bezahlt. Sie würde auf diese Weise zwar eine Weile lang
untertauchen können, aber sie würde sich schon bald etwas Besseres suchen
müssen. Dazu aber musste sie sich eine neue Identität aufbauen und sie mit den
entsprechenden Papieren untermauern können.
Da aber Recherchieren ihr eigentliches Arbeitsgebiet war, hatte sie sich gleich
mal auf die Suche nach einer neuen Identität gemacht. In der Bibliothek von
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