Wie Tau Auf Meiner Haut
sein. Wie weich sie ausgesehen
hatte! Wenn man als Mann auf ihr lag, würde man nicht den Eindruck haben, auf
einem Skelett zu liegen.
Was für eine merkwürdige Anziehung, dachte er, während seine Fingerspitzen die
kühle Scheibe berührten. Normalerweise bevorzugte er hagere Frauen, die kleine
Grace aber war unbewusst trotz ihres Gewichts unglaublich sinnlich. Sie hatte
kein starkes Übergewicht, sie war nur ein wenig rundlich. Vielleicht sollte er
Conrad anweisen, sie nicht sofort umzubringen. Vielleicht konnte er sie später
selbst umbringen, nachdem er eine ganz bestimmte Phantasie ausgelebt hatte.
Bei der Vorstellung musste er grinsen.
Kapitel 9
Müde band sich Grace die Schürze ab und warf sie in den Wäschekorb. Heute war
der sechste Tag an ihrem Zeitarbeitsplatz als Tellerwäscherin und Mädchen für
alles in Orel Hector's Pizza Pasta Restaurant. Manchmal hatte sie den Eindruck,
den Knoblauchgeruch nie mehr aus ihren Haaren und von ihrer Haut abwaschen
zu können. Den Angestellten stand zu Mittag eine Mahlzeit frei, Grace aber hatte
dieses Angebot bisher noch nicht wahrgenommen. Allein bei der Vorstellung
einer herzhaften Pizzamahlzeit verkrampfte sich ihr Magen.
»Kommt du morgen wieder? « fragte Orel, während er die Kasse hervorholte, um
sie zu bezahlen. In dem Restaurant arbeiteten drei Teilzeitangestellte, von denen
keiner auf einer Lohnliste verzeichnet war. Etwa ein Drittel der täglichen
Einnahmen wanderten unter den Tisch und wurden nicht von der Kasse quittiert.
Am Ende jeden Tages bezahlte Orel sie in bar. Wenn einer von ihnen am
nächsten Tag nicht auftauchte, dann besorgte er sich den nächsten. Das
vereinfachte den bürokratischen Prozess ganz ungemein.
»Ich werde morgen kommen«, erwiderte sie. Die Arbeit war sehr anstrengend,
aber sie kam ihrem im verborgenen operierenden Haushalt sehr entgegen. Orel
gab ihr drei Zehndollarscheine, dreißig Dollar für sieben Stunden Arbeit.
Insgesamt aber hatte sie in den sechs Tagen bereits hundertachtzig Dollar
verdient. Nachdem sie Harmony siebzig gezahlt hatte, blieben immer noch
hundertzehn Dollar übrig. Ihre Ausgaben waren gering, lediglich das Busgeld und
etwas neue Kleidung. Sie hatte noch zwei Paar billige, diesmal eine Nummer
kleinere Jeans erstanden sowie ein paar T-Shirts. Tellerwaschen war eine
anstrengende Arbeit, und auch die neuen Jeans wurden ihr von Tag zu Tag
weiter. Sie faltete die Geldscheine zusammen und steckte sie in ihre Tasche,
dann holte sie ihren Computer unter dem Schrank hervor, wo sie ihn vor
Wasserspritzern schützte. Sie hatte Orel erzählt, dass sie Abends zur Schule
ginge, was allen als eine akzeptable Erklärung erschienen war. Die Mitarbeiter
stellten ohnehin nicht viele Fragen. Sie waren froh, wenn man sie in Ruhe ließ
und sie sich nicht auf jemand anderen einstellen mussten. Grace wiederum kam
das sehr entgegen.
Sie verließ das Restaurant durch die Hintertür und trat auf die verdreckte Gasse
hinaus. Eine frische Brise hatte sich sogar in dieser engen Gasse einen Weg
gebahnt. Sie atmete tief ein und war dankbar, keinen Knoblauchgeruch mehr in
der Nase zu haben.
Vorsichtig blickte sie sich nach allen Seiten um. Mit der einen Hand drückte sie
ihren Computer fest an sich, mit der anderen umklammerte sie das Messer.
Bisher hatte sie noch keinerlei Schwierigkeiten gehabt, dennoch war sie
vorbereitet.
Sie lief zwei Häuserblocks bis zur Bushaltestelle, wo der Bus in zehn Minuten
kommen sollte. Der spätnachmittägliche Himmel war klar und blau, der Tag
frisch und schön, und alle Menschen schienen beschwingt. Der Frühling war nun
wirklich da und brachte ein mildes Klima mit sich. Grace erinnerte sich an die
Freude über den Frühling, als sie durch Murchinsons Garten gelaufen war. Wie
lange war das her? Zwei Wochen? Drei? Eher drei, mutmaßte sie. Es war der
siebenundzwanzigste April gewesen, der letzte Tag, an dem sie Freude hatte
empfinden können. Heute bemerkte sie die klare Luft, aber es berührte sie nicht.
Sie fühlte lediglich eine farblose Leere in ihrem Inneren. Der Bus kam, und sie
stieg ein und zahlte ihr Billet. Der Busfahrer nickte ihr zu. Heute war der sechste
Tag hintereinander, an dem sie an dieser Haltestelle eingestiegen war, und er
hatte sich ihr Gesicht gemerkt. Sie würde wohl eine Weile lang eine andere
Buslinie nehmen müssen.
Sie stieg an der Newberry-Bibliothek aus, die eine der weltbesten Bibliotheken
für historische
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