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Wie Tyler Wilkie mein Leben auf den Kopf stellt und was ich dagegen tun werde: Roman (German Edition)

Wie Tyler Wilkie mein Leben auf den Kopf stellt und was ich dagegen tun werde: Roman (German Edition)

Titel: Wie Tyler Wilkie mein Leben auf den Kopf stellt und was ich dagegen tun werde: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Shelle Sumners
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hinüber.
    »Hey, danke, du bekommst das Geld zurück.«
    Lächelnd winkte ich ab. »Ich geb heute einen aus. Willkommen in New York.« Ich steckte die Karte ein, und wir gingen den Bahnsteig entlang.
    Wir mussten eine Weile warten. Er trug dieselbe Kleidung wie an dem Tag, als wir uns zum ersten Mal begegnet waren, eine praktische, warme Jacke, Converse Sneakers und eine Strickmütze. Unter dem hochgeschlagenen Jackenkragen lugte ein Stück kariertes Flanellhemd hervor. Er sah verletzlich aus in der Kälte. Er brauchte einen warmen Schal.
    Er bemerkte, dass ich ihn anschaute, zog die Augenbrauen hoch und warf mir sein wahnsinnig bezauberndes Lächeln zu. Er sah so nett aus, so gutmütig. Unwillkürlich erwiderte ich sein Lächeln.
    »Du siehst hübsch aus«, sagte er.
    Ich winkte mit beiden Händen ab und murmelte etwas über meine alte, abgewetzte Lammfelljacke.
    »Als ich dich das letzte Mal gesehen habe, warst du ziemlich stark geschminkt. Und deine Haare.« Er nahm eine Strähne und befühlte sie mit Daumen und Zeigefinger. »Ich hab gar nicht gewusst, dass sie so lang sind.«
    Aha, der Typ war also ein Player. Damit konnte ich umgehen. Es war nicht das erste Mal, dass jemand mit mir flirtete.
    »Zu lang«, sagte ich, holte ein Zopfgummi aus der Tasche und zog meine Haare zu einem Pferdeschwanz hindurch. »Ich muss zum Friseur.«
    »Ich habe mir die Haare erst noch geschnitten, bevor ich hergekommen bin.«
    »Du hast es selbst gemacht, oder?«
    »Stimmt. Mein Freund Bogue hat gesagt, ich sähe wie ein beknacktes Landei aus, und so könne ich nicht nach New York gehen. Wir waren betrunken. Er hat mir ein paar Bilder im GQ gezeigt und gemeint, ich müsse versuchen, möglichst metrosexuell auszusehen.«
    Ich konnte mir das Lachen nicht verbeißen. »Wie lang waren deine Haare?«
    Er hielt die flache Hand knapp unterhalb seiner Schulter.
    »Ziemlich lang also. Womit hast du sie abgeschnitten?« Ich dachte an ein Steakmesser.
    »Mit der Nagelschere meiner Schwester. Es hat verdammt lange gedauert! Besonders hinten. Jetzt bin ich hier, und alle Männer haben lange Haare! Außerdem kümmert sich hier kein Arsch um die Haare anderer Leute.«
    Es sei denn, die Frisur sieht aus wie deine, dachte ich, als ich mich daran erinnerte, wie er ohne Mütze im Herman’s aufgetreten war. Ich lächelte.
    »Was denn?«, fragte er.
    »Ich bin … bloß so froh, dass du die Mütze hast.«
    Während der zwanzigminütigen Bahnfahrt zu den Washington Heights erzählte er mir viel von sich. Sein ältester sowie bester Freund und Modeberater Bogue (reimt sich passenderweise auf Vogue ) war mit ihm in die Stadt gekommen. Sie hatten in den Kleinanzeigen im Internet ein Ein-Zimmer-Apartment gefunden, fünfter Stock ohne Aufzug, zwanzig Quadratmeter. Sie teilten es sich mit einer Performance-Künstlerin namens Kassandra.
    »Kassandra?«, fragte ich. »Wie die Unheilsseherin in der griechischen Mythologie? Die vor dem Trojanischen Pferd gewarnt hat?«
    »Was für’n Pferd?«
    »Das große Holzpferd, in dem sich Odysseus mit seinen Männern versteckt hat?!«
    »Ach ja, Odysseus …«, sinnierte er mit einem angedeuteten Lächeln. Dann stupste er mich mit seinem Bein an. »Du weißt eine Menge, oder? Bist du vielleicht Lehrerin?«
    »Knapp daneben. Ich bin Lektorin für Schulbücher und Lehrmaterial.«
    »Wahnsinn!« Er legte einen Arm über meine Sitzlehne. »Also verbirgt sich ein kluges Köpfchen hinter diesem hübschen Gesicht.«
    Ich warf ihm einen, wie ich hoffte, missbilligenden Blick zu.
    »Was denn?«, fragte er lachend.
    »Weißt du, der Begriff ›kluges Köpfchen‹ hat nicht ganz den gewünschten Effekt bei mir. Ich muss dabei unwillkürlich an Filme mit Doris Day aus den Fünfzigern denken, so in dem Tenor.«
    »Das habe ich aber gar nicht so gemeint«, erwiderte er und drückte sein Bein gegen meines.
    »Ich habe einen Freund.«
    Er zog seinen Arm zurück und lehnte sich nach vorn, die Ellbogen auf den Knien, die Hände verschränkt. Dann sah er mich von der Seite an. »Hab ich mir schon gedacht. Sorry.«
    »Schon okay.«
    Wir erreichten unsere Haltestelle. Wahrscheinlich bereute er es inzwischen, so weit mit mir gefahren zu sein. »Du musst nicht mitkommen, wenn du nicht willst. Die Bahn zurück ins Zentrum müsste bald fahren.«
    »Aber warum sollte ich nicht mitkommen? Ich möchte dich gerne begleiten und mir mittelalterliche Kunst ansehen!« Es klang ehrlich, vielleicht sogar ein wenig beleidigt.
    Der Anblick der Cloisters

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