Wie Tyler Wilkie mein Leben auf den Kopf stellt und was ich dagegen tun werde: Roman (German Edition)
haben«, sagte ich und schleppte ihn zu dem Berg von Sachen auf meinem Schreibtisch. Er konnte nur einen kurzen Blick darauf werfen, schon wurde er von meinen Kolleginnen umringt. Ich nutzte die Gelegenheit, um auf die Toilette zu verschwinden. Der Knubbel drückte mir in letzter Zeit auf die Blase.
Jess folgte mir raus auf den Flur.
»Grace!«, sagte sie mit weit aufgerissenen Augen. »Das ist ja der helle Wahnsinn!«
»Ja«, sagte ich freundlich. »Stimmt.«
»Das ist Tyler Wilkie!«
»Hm-hmm.« Ich machte mich auf den Weg den Flur hinunter. Sie folgte mir.
»Das bedeutet … du hattest Sex mit ihm!«
Vor der Damentoilette blieb ich stehen und hoffte, dass meine strapazierten Schließmuskeln es noch eine halbe Minute aushalten würden.
»O mein Gott, tut mir so leid, das war sehr unhöflich!«
»Schon gut.«
»Ausgerechnet du! Du hast es gewollt und tatsächlich bekommen! Keine Angst, ich werde dich nicht fragen, wie es war oder so. O mein Gott, wenn ich das Amber erzähle! Sie hat eine Facebook-Seite nur über ihn! Sie wollte sich umbringen, als sie gelesen hat, dass er geheiratet hat!«
»Ich, äh, ich müsste jetzt dringend mal da rein …«
»Entschuldige! Geh nur. Soll ich auf dich warten?«
»Nein, nein, ich schaff das schon.«
Sie war schon wieder auf halbem Weg zurück ins Büro.
Ich hatte nur noch sehr wenig Zeit, egoistisch zu sein. Deshalb fuhr ich allein zu den Cloisters , ohne Ty davon zu erzählen.
Dort setzte ich mich auf eine Bank in die Sonne und sah zu, wie die Schmetterlinge über die Lavendelblüten flatterten, und die Schiffe den Hudson hinunterfuhren. Es war einer jener milden, herrlichen Frühlingstage mit blauem Himmel, die selbst einen Zyniker dazu bringen, an das Gute zu glauben. An Gott oder Pegs Göttin. So, als sei sie in unmittelbarer Nähe, vielleicht in der eigenen Hosentasche.
Als ich mich gelassen und mutig genug fühlte, zog ich das Hochzeitsgeschenk von Ed und Boris aus meiner Handtasche, Der Prophet von Kalil Gibran. Ich schlug es auf und fand die Passage Von der Liebe . Das ganze Gerede darüber, wie einen die Liebe drosch und backte, überblätterte ich, bis ich zu dem gefürchteten Absatz gelangte.
Aber wenn du liebst und Wünsche haben musst, sollst du dir dieses wünschen:
Zu schmelzen und wie ein fließender Bach zu sein, der seine Melodie der Nacht singt.
Den Schmerz allzu vieler Zärtlichkeit zu kennen.
Vom eigenen Verstehen der Liebe verwundet zu sein; und willig und freudig zu bluten.
Ich las die Stelle immer wieder und stürzte mich kopfüber in die Konfrontation mit dem Schmerz einer zu großen Zärtlichkeit. Ich konnte ihn nicht länger verdrängen. Und er verwundete mich. Es tat, wie Ty es vielleicht ausgedrückt hätte, total beschissen weh.
Eines Tages – hoffentlich erst in vielen, vielen Jahren – würde einer von uns sterben.
Dieser Gedanke war das Grausamste, was ich je gedacht hatte. Angenommen, er starb zuerst und ließ mich hier allein, ohne ihn, zurück? Wie sollte ich das ertragen? Und wie sollte ich mit dieser Angst weiterleben und -lieben, bereitwillig und freudig?
Vielleicht war das der Hauptgrund, warum ich so lange vor ihm davongelaufen war. Warum die Liebe zu ihm etwas so Angsteinflößendes war.
Zum Trost rieb ich über meinen Bauch. Der Knubbel rührte sich nicht, gerade jetzt, wo ich ein bisschen ablenkenden innerlichen Aufruhr hätte gebrauchen können.
Die Gartenkuratorin, eine hübsche junge Frau mit Erde im Gesicht, hielt mit dem Unkrautjäten in einem nahe gelegenen Beet inne, stand auf und kam zu mir. Sie setzte sich neben mich, zog ein Päckchen Taschentücher hervor und reichte es mir.
»Danke«, sagte ich und putzte mir die Nase.
»Kann ich irgendetwas für Sie tun?«, fragte sie sanft.
Ich schüttelte den Kopf. »Nein, danke. Leider nicht.«
Sie klopfte mir auf die Schulter und kehrte zu ihren Verbenen und dem Johannniskraut zurück.
Ich nahm den Propheten wieder zur Hand und las noch einmal die ganze Passage langsam und vollständig. Eine Stelle fand ich irgendwie hilfreich.
Aber wenn du in deiner Angst nur die Ruhe und die Lust der Liebe suchst, dann ist es besser für dich, deine Nacktheit zu bedecken und vom Dreschboden der Liebe zu gehen. In die Welt ohne Jahreszeiten, wo du lachen wirst, aber nicht dein ganzes Lachen, und weinen, aber nicht all deine Tränen.
Okay.
Also sollte ich vielleicht daran arbeiten, meine Ängste abzubauen, sogar in dieser Hinsicht, und einfach drauflos
Weitere Kostenlose Bücher