Wie wollen wir leben
hat. In diesem Fall hat das Attentat eines Juden auf den deutschen Legationsrat Ernst von Rath in Paris die Volkswut geschürt.« Unser Lehrer war kein Nazi, eher ein Deutschnationaler. Später, als die Schule vorbei war und ich wieder zu Hause, fragte ich meine Mutter: »Werden die christlichen Kirchen auch einmal auf diese Weise behandelt? Werden sie eines Tages auch verschwinden wie die Synagogen?« Sie war der Meinung, dass dies nicht passieren würde, und mein Vater, dem ich die Fragen ebenso stellte, gab gleichfalls ein Nein zur Antwort. Er fügte noch hinzu, dass die Juden Sonderbestimmungen unterlägen.
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Waren unter Ihren Klassenkameraden Juden?
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Wir hatten in unserer Klasse keine jüdischen Mitschüler. Aber in der Unter- oder Oberprima meiner Schule gab es zwei Jüdinnen â vielleicht war es auch eine Jüdin und ein Jude, genau weià ich es nicht mehr. Die schieden spätestens 1938 aus dem Gymnasium aus.
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Michael Verhoeven hat 2008 einen beeindruckenden Dokumentarfilm gedreht, in dem auch das Verhalten deutscher Nachbarn zu ihren jüdischen Mitbürgern thematisiert wird. Die Dokumentation hat den Titel
Menschliches Versagen und zeigt, dass die Deutschen oft schon im Voraus wussten, welche Wohnung von jüdischen Nachbarn aufgelöst, wer »verlegt« werden sollte. Die Deutschen gingen zu diesen Wohnungen und betätigten sich quasi als Schnäppchenjäger. Und es waren keine Einzelfälle, sondern dieses Verhalten war weit verbreitet. Das gab es wohl in jeder Stadt, für jeden Ort in Deutschland. Ich frage mich: Wo war damals das moralische Gerüst? Was hatte es einem erlaubt, dass man so handelte?
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Das ist eine durchaus berechtigte Frage â und in erster Linie auch eine Frage an die beiden christlichen Kirchen. Clemens August Graf von Galen, der 1933 zum Bischof von Münster ernannt worden war, protestierte öffentlich gegen die Euthanasie, die Ermordung von Geisteskranken, und das mit einem gewissen Erfolg. Aber einen öffentlichen Protest in vergleichbarer Weise gegen das, was den Juden widerfahren ist, hat es in dieser Deutlichkeit nicht gegeben. Bis heute beschäftigt sich die katholische Kirche mit der Frage, ob Papst Pius XII. lauter und klarer hätte reden sollen. Historiker setzen sich damit auseinander, wie sein Verhalten in der Zeit des Nationalsozialismus zu beurteilen ist. Man muss auch daran erinnern, dass es den Antisemitismus schon vor 1933 gegeben hat. Hinzu kam eine in Deutschland weit verbreitete und verwurzelte Obrigkeitshörigkeit, deren sich das NS-Gewaltregime intensiv bediente.
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Und Sie persönlich â wie haben Sie die Auseinandersetzungen mit den Erfahrungen dieser Zeit geprägt?
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Als mir das Ausmaà der seinerzeitigen Verbrechen in den späten vierziger und frühen fünfziger Jahren allmählich bewusst wurde, begann ich mich mit der Frage nach deren Ursachen zu beschäftigen. Bis heute ist es für mich ein unglaublicher Widerspruch, dass Menschen eines Volkes, das einen Goethe, einen Schiller, einen Kant, einen Lessing hervorgebracht hat, zu solchen Gräueltaten fähig waren. Darunter waren ja ganz »normale« â das Wort spreche ich in Anführungszeichen â Leute. Reichsbahner und Polizeibeamte zum Beispiel. Es gibt Untersuchungen, die nachgewiesen haben, dass sogenannte Polizeikompanien an den Massenmorden
in der Ukraine beteiligt waren. Werte oder gar Menschenrechte spielten da keine Rolle. Stattdessen galt der »Führer« als allwissend und als allmächtig. Meine Schlussfolgerung war: So etwas darf sich niemals wiederholen. Und dafür habe ich mich dann auch mein Leben lang engagiert.
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Erinnern Sie sich, in welcher Gefühlslage Sie Soldat geworden sind? Sie sagten, Sie haben sich freiwillig gemeldet, um der Waffen-SS zu entgehen. Gab es da bei Ihnen noch einen Rest â ich sage jetzt nicht Begeisterung, aber einen Rest eines tatsächlichen Wollens, diesen Krieg zu führen, um zu gewinnen?
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Ich muss das noch einmal ganz deutlich sagen: Als ich eingezogen wurde, war ich siebzehn Jahre und vier Monate alt. Bei Einladungen in Schulen frage ich die Schüler immer: »Wie alt seid ihr?« Danach schildere ich ihnen, wie vor achtundsechzig Jahren in dem gleichen Alter meine Lebenssituation war. Da kommen die aus dem Staunen nicht heraus. Nun ja â ich wurde zur Infanterie nach Kassel eingezogen.
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