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Wie wollen wir leben

Wie wollen wir leben

Titel: Wie wollen wir leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Maischenberger
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das habe ich schon in meinen früheren Büchern erwähnt, trat mein Vater im Oktober 1932 der NSDAP bei. Für diesen Entschluss waren wohl der Vertrag von Versailles und die hohe Arbeitslosigkeit ausschlaggebend. Nach wenigen Jahren, ich glaube ab 1935 oder 1936, zog er sich von allen politischen Aktivitäten zurück – in der Erkenntnis, dass dieser Parteieintritt ein Irrtum war. Manchmal redete er später so kritisch über das NS-Regime und über Hitler, dass ich zu ihm sagte: »Vater, du bist doch Beamter« – er war Universitätsprofessor –, »du bekommst doch dein Geld von diesem Staat, wieso redest du so schlecht über ihn? Wie geht das?« Er hat das dann aber nicht weiter vertieft.
    Ich selbst war in der Hitlerjugend. Doch da ich sportlich nicht sonderlich leistungsfähig war, hatte ich mich in einem »Fähnlein« – so nannte man die kleinere Einheit – um die finanziellen Dinge zu kümmern. Später war ich auf der Kreisebene Kulturbeauftragter, und als solcher hatte ich mich um den Theaterring, das Laienspiel und musikalische Aktivitäten zu kümmern. Gelegentlich ging es auch um Veranstaltungen, bei denen die Nazi-Ideologie eine Rolle spielte.
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    Gab es Teile dieser Ideologie, denen Sie zugestimmt haben? Gab es etwas, das Ihnen gefallen hat?

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    Dass Deutschland in der Welt wieder an Gewicht gewann, dass die Arbeitslosenzahlen zurückgingen, das gefiel mir. Auch dass es wieder eine Wehrmacht gab, und ebenso verbuchte ich darunter den »Anschluss« Österreichs 1938. Noch heute bin ich davon überzeugt, dass die Nazis bei freien Wahlen im Sommer 1938 einen hohen Prozentsatz erreicht hätten.
    Ich erinnere mich aber auch daran, dass mein Vater nach Kriegsausbruch sagte, der Krieg sei nicht zu gewinnen. »Den gewinnt er nicht!«, war ein Ausspruch, den er oft wiederholte. Na ja, und dann war ich selbst Soldat, seit Juli 1943. Ich hatte mich freiwillig gemeldet, weil mein Jahrgang – 1926 – sehr stark von der Waffen-SS umworben wurde. Dorthin wollte ich unter keinen Umständen. Aber man war vor dieser nationalsozialistischen Parteitruppe erst in Sicherheit, wenn man einen Wehrmachtsannahmeschein hatte.
    Das ganze Ausmaß der Verbrechen des NS-Gewaltregimes ist mir erst nach dem Krieg allmählich klar geworden. Vorher gab es ein einziges Erlebnis, das darauf hinwies. Ich befand mich im Herbst 1943 mit einer schweren Gelbsucht in einem Lazarett in der Bretagne, in Rennes. Als es mir besser ging, arbeitete ich in der Schreibstube des Stabsarztes mit. Manchmal saß da ein kleiner Kreis von Kameraden zusammen, und es wurde erzählt. In dieser Runde sagte ein älterer Obergefreiter – er war vielleicht Mitte zwanzig, ich siebzehn: »Ihr wisst ja gar nicht, was alles in Russland passiert, wie da Menschen ihr Leben verloren haben.« Wir Jüngeren hörten ihm zu, schließlich fragte einer: »Ja, meinst du die Russen?« Der Obergefreite lachte nur und wehrte ab: »Nein, nein, ganz andere Dinge.« Wir bedrängten ihn, wollten mehr darüber erfahren, was er meinte, aber er weigerte sich, weiter darüber zu reden.
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    Richard von Weizsäcker, der ehemalige Bundespräsident, hat am 8. Mai 1985 im Bundestag eine Rede anlässlich des 40. Jahrestags der Befreiung vom Nationalsozialismus gehalten. In dieser sagte er: »Wer seine Ohren und Augen aufmachte, wer sich informieren wollte, dem konnte nicht entgehen, dass Deportationszüge rollten.«

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    Ich selbst bin nie im Osten gewesen. Nachdem ich als Soldat in Frankreich im Einsatz war, kam ich nach Italien.
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    Aber Sie haben die brennenden Synagogen in Deutschland erlebt, die Nacht vom 9. auf den 10. November 1938?
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    Ja. Das Gymnasium, auf das ich damals in Gießen ging, war nur ungefähr 120 Meter von einer Synagoge entfernt. In der Pause, es war der 10. November 1938, sahen wir Rauch aufsteigen, und es knisterte auch. Wir liefen zur Synagoge hinüber und konnten dort sehen, dass Polizei und Feuerwehr zwar da waren, aber den Brand nicht löschten, sondern beförderten. Kurz danach kam unser Lehrer, um uns wieder zurückzuholen. Wir fragten ihn, was das denn zu bedeuten hätte, warum man denn das Feuer nicht löschen würde. Darauf antwortete er: »Ja, das ist die Volkswut. Schon früher hat es in der Geschichte Fälle gegeben, in denen man die Juden auf diese Weise für Untaten gestraft

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