Wie wollen wir leben
Aibling, wurde ich wenige Tage später auf einen Lastwagen gesetzt. Der fuhr uns aber nicht in die amerikanische, sondern in die französische Zone in Mainz. Das war riskant. Denn die Franzosen nahmen von den Amerikanern entlassene Gefangene wieder in Beschlag und transferierten sie zur Arbeit nach Frankreich. Aber es gab eine Notbrücke über den Rhein, und über diese konnte ich mich unkontrolliert auf den Weg nach Hause zu meinen Eltern machen, die immer noch in GieÃen wohnten. Meine gute Mutter, die noch dunkles, schwarzes Haar hatte, als ich das letzte Mal im Dezember â44 in Urlaub war, war inzwischen schneeweià geworden. Die Freude der Eltern war groÃ, ihr Sohn war wieder bei ihnen. Auch mein Bruder Bernhard, den ich als Ersten auf der StraÃe traf, freute sich sehr.
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Im Vergleich zu Soldaten an anderen Teilen der Front hatten die, die in Venetien oder in der Toskana waren, in Gebieten, in denen die Deutschen dann später gern Urlaub machten, vergleichsweise milde Umstände.
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Ja.
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Viele Soldaten berichteten, dass sie durch die Schrecken des Krieges, aber auch aufgrund des eigenen Ãberlebenswillens Dinge getan haben, von denen sie vorher nie gedacht hätten, dass sie dazu in der Lage wären. Sie waren entsetzt über die eigene Veränderung. Haben Sie das auch an sich erleben müssen?
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Ich muss nochmals betonen, dass ich, verglichen mit den Jahrgangskollegen, die in Russland kämpfen mussten, wirklich Glück hatte. Deshalb blieben mir solche Erfahrungen erspart.
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Haben Sie die Schrecken des Krieges überhaupt am eigenen Leib erfahren?
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Es sind Kameraden in meiner unmittelbaren Nähe gefallen, haben neben mir ihr Leben verloren. Sie lagen tot neben mir am Boden. Als ich selbst verwundet wurde, war das ein Bauchschuss, aber kein Magenschuss. Der Magen blieb unverletzt. Auch da habe ich wieder Glück gehabt.
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Und Sie selbst haben auch geschossen?
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Ich habe auch geschossen, natürlich. Nicht so, dass ich auf einen konkreten Menschen gezielt hätte. Aber wenn man mit einem Maschinengewehr oder einer anderen Waffe in den Wald schieÃt oder in ein Getreidefeld, in dem sich Schatten bewegen, dann weià man, dass dies Menschen töten kann. Jedoch: Kriege zu führen und zu schieÃen war in der deutschen Geschichte bis dahin eine Selbstverständlichkeit. Soll ich die ganze Reihe von 1866 über 1870/71 bis hin zum Ersten Weltkrieg aufzählen? Heute ist â Gott sei Dank â Frieden für die meisten von uns zu einer Selbstverständlichkeit geworden, über die mir zu wenig nachgedacht wird.
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Ich wundere mich: Sie sagten, dass Sie in der RAF-Zeit wieder stark den Gottesbezug gefühlt haben. Ich hätte jetzt vermutet, dass Sie angesichts der vielen glücklichen Umstände, die Ihnen im Zweiten Weltkrieg widerfuhren, ein besonders nahes Gefühl zu Gott entwickelt hätten. Im Sinne von, da wacht einer über mich und passt auf, dass mir nichts geschieht. Ging es Ihnen nicht so? Oder haben Sie den Glauben in dieser Zeit eher verloren?
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Damals war ich eher etwas glaubensferner. Jedenfalls hat mich der Gedanke, ich müsse dem Herrgott besonders dankbar sein, weil er zugelassen hat, dass Kameraden fielen, dass aus meiner Klasse sechs Mitschüler den Krieg nicht überlebten, während ich infolge günstiger Umstände nicht getötet wurde, nicht besonders beschäftigt. Ein Gefühl, an das ich mich erinnere, war einfach die Freude darüber, überlebt zu haben.
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Aber man hätte den Gottesbezug auch ganz verlieren können. Immerhin erlebten Sie eine Realität, die mit dem Ideal einer gerechten Welt überhaupt nichts mehr zu tun hatte.
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Frau Maischberger, das ist ein Punkt, der mich immer wieder beschäftigt. Das ist die Frage nach der Theodizee, der Frage: Warum lässt Gott das zu? Warum hat Er Auschwitz zugelassen? Warum hat er die Dinge zugelassen, über die wir reden? Da ist meine Antwort heute die folgende: Gott hat dem Menschen die Willensfreiheit gegeben und die Fähigkeit, Gut und Böse voneinander zu unterscheiden. Damit liegt die Verantwortung für menschliche Verbrechen, für menschliche Untaten bei den Menschen selbst. Es ist ihre Sache. Wenn man Gott abverlangt, dass er da im Einzelnen eingreift, muss man sich überlegen: Wann genau soll er eingreifen? Und soll er die Willensfreiheit der Menschen reduzieren, gar
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