Wie wollen wir leben
Demokratie, einen föderalen Staat, der auch funktionieren wird. Ihr werdet auch ein Gericht haben, ein Verfassungsgericht, das seine Sache sehr gut machen
wird. In zehn bis zwölf Jahren werdet ihr eure zerstörten Städte im Wesentlichen wieder aufgebaut haben. Es werden zwar über zehn Millionen aus ihrer Heimat fliehen oder vertrieben werden, aber in erstaunlich kurzer Zeit werdet ihr sie integrieren, ohne dass es zu schweren Konfrontationen kommt. Wirtschaftlich werdet ihr schon in den fünfziger Jahren wieder besser leben als vor dem Krieg, und es wird, wenn auch mit Unterbrechungen, kontinuierlich nach oben gehen. Ihr werdet sogar Exportweltmeister werden. Und trotz der furchtbaren Verbrechen in der Zeit des NS-Gewaltregimes werdet ihr wieder in der Weltgemeinschaft euren Platz finden. Ein Deutscher, nämlich euer Bundeskanzler, wird 1971, sechsundzwanzig Jahre nach Kriegsende, den Friedensnobelpreis bekommen. 1972 werdet ihr in München, der Stadt, die während der NS-Zeit den Titel âºHauptstadt der Bewegungâ¹ trug, bei Olympischen Spielen die Welt zu Gast haben. Und die Deutsche Einheit wird zustande kommen, ohne einen Schuss und ohne einen Tropfen Blut.« Hätte uns das im Lager einer gesagt, wir hätten gerufen: »Der Mann ist wahnsinnig!« Oder: »Der verhöhnt uns!« Doch es sollte so kommen, wenn auch all dies nicht vom Himmel fiel. Und die so oft geschmähten Parteien haben daran ganz wesentlich, ja entscheidend mitgewirkt.
Da nenne ich nur Konrad Adenauer, der sich für die Westbindung engagierte, und mit besonderer Akzentuierung Willy Brandt wegen seiner Ostpolitik. Für die europäischen Perspektiven füge ich Helmut Schmidt hinzu. Denn der Gedanke des Euros wurde noch in seiner Zeit und der des damaligen französischen Staatspräsidenten Giscard dâEstaing entwickelt. Doch auch Helmut Kohl verdient als engagierter Europäer erwähnt zu werden. Und über den Atomausstieg haben wir schon gesprochen.
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Was war denn Ihre Vorstellung über die Zukunft des Landes, wenn es denn eine gab?
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Am 8. Mai â45 dachte ich in erster Linie daran, dass wir herangezogen werden, um die Schäden zu beseitigen, die wir in ganz Europa angerichtet haben. Und an diesem Tag hätte ich auch nicht geglaubt, dass ich so rasch aus der Gefangenschaft entlassen
würde, denn die Verwüstungen waren groÃ, zwar nicht so sehr in Italien, aber in Frankreich, in Osteuropa â man hätte uns gut zu deren Beseitigung heranziehen können. Dann beschäftigte mich noch der Morgenthau-Plan, von dem ich in Stars and Stripes gelesen hatte. Er war 1944 vom amerikanischen Finanzministerium entwickelt worden. Danach sollten wir entindustrialisiert werden und nur noch ein Agrarland sein. Es war ebenso die Rede davon, dass Deutschland unter den Siegermächten in vier Besatzungsgebiete aufgeteilt wird. Ich erinnerte mich auch an meine letzte Fahrt durch Deutschland von Erfurt über den Brenner im Januar 1945. Da lag so viel in Trümmern. Die Zukunft erschien uns deshalb grau und verhangen.
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Sie dachten, Sie würden mehr oder weniger in Höhlen leben?
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Höhlen nicht gerade, denn es gab immerhin noch Häuser, in denen Menschen, wenn auch sehr dicht beieinander, lebten. Hatte man als vierköpfige Familie anderthalb Zimmer, so war das damals schon viel. Und als ich dann nach Hause kam, entwickelte man zunächst auch keine groÃen Ansprüche. Es ging darum, dass man genug zu essen hatte, ein Dach über dem Kopf, besonders in diesen jämmerlichen Wintern 1945/46 und 1946/47 nicht gotterbärmlich fror und irgendwo einen beruflichen Anknüpfungspunkt erwischte. In meinem Fall war es das Studium.
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Ich habe eine ketzerische Nachfrage. Glauben Sie, dass der wirtschaftliche Aufschwung Deutschlands von den USA aus rein ökonomischen Interessen heraus nicht auch kaltblütig kalkuliert war? Ãberwog da nicht die finanzpolitische Vernunft vor humanistischem Gedankengut? War es den Amerikanern nicht wichtiger, ein starkes Deutschland als Exportpartner zu haben, als ein Land, das in die Steinzeit zurückkehrte?
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Ãber die Kalt- oder Warmblütigkeit der Amerikaner will ich nicht spekulieren. Aber Sie haben insofern recht, als die Entscheidung gegen den Morgenthau- und für den Marshallplan für den Wiederaufstieg unseres Landes von substanzieller Bedeutung war. Wichtig war da für uns schon die
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