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Wie wollen wir leben

Wie wollen wir leben

Titel: Wie wollen wir leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Maischenberger
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werden, dass wir uns mit dem Sinn des Daseins beschäftigen sollten, mit dem Sinn unseres Lebens. Und dazu gehört, sich nach Kriterien umzusehen, die nicht nur für das gelingende Leben des Einzelnen wichtig sind, sondern die auch für die Gemeinschaft gelten. Da schiebt sich für mich erneut die Diskussion in den Vordergrund, ob wirklich das Bruttosozialprodukt und sein Wachstum das de facto entscheidende Kriterium bleiben kann. Oder ob man nicht vielmehr das qualitative Wachstum und die Lebensbefindlichkeit der Menschen stärker in den Blick nehmen soll. Es erreichen Sie sicher noch Briefe von Menschen, die Ihnen schreiben …
    Â 
    O ja!

    Â 
    â€¦ was ist der Tenor dieser Schreiben? Was bewegt die Menschen?
    Â 
    Meistens geht es in den Briefen um sehr persönliche Fragen. Das hängt in letzter Zeit auch mit der bekannt gewordenen Entscheidung von meiner Frau und mir zusammen, in ein Altenwohnheim zu ziehen. So schildert mir etwa in einem dieser Briefe ein Mann seine Situation und die seiner Ehefrau, die seit zwölf Jahren pflegebedürftig ist, und dass sie alles, was ihnen an materiellen Hilfsmitteln zur Verfügung gestanden hat, aufgebraucht haben. Andere fühlen sich ungerecht behandelt oder bitten um einen Rat. Jeder, der mir schreibt, bekommt eine Antwort. Manchmal endet sie mit dem Satz: »Wahrscheinlich hätten Sie eine positivere Antwort von mir erwartet.« Aber aufgrund meiner Lebenserfahrung weiß ich: In Menschen Illusionen zu wecken, auf die dann nach einigen Wochen umso bitterere Enttäuschungen folgen, ist für die Betroffenen schlimmer, als ihnen wahrheitsgemäß gleich zu Beginn zu sagen, dass ich ihnen in diesem Fall beim besten Willen nicht helfen kann.
    Â 
    Was Sie mitbekommen, ist die »Conditio Humana«, die privaten Sorgen der Menschen, und im Hintergrund haben Sie die »Conditions Globales«?
    Â 
    Ja, aber das gehört zusammen. Ob Menschen bei uns in Deutschland ein gelungenes Leben führen können, hängt wesentlich mit der Weltentwicklung zusammen. Wenn ich zurückdenke: Was ging es mich als Schüler an, was in China, Australien oder am Nordpol passierte. Das war unendlich weit weg. Aber jetzt ist das vollkommen anders. Um 1840 brauchten die Bayern noch vier Tage, um von München aus an ihre fränkische Grenze zu gelangen, und heute kann man innerhalb eines Tages von München aus die entferntesten Plätze der Welt erreichen. Und Informationen sind weltweit in kürzester Zeit verfügbar.
    Â 
    Sind Sie angesichts der Situation, dass wir auf der Welt immer mehr Menschen werden, angesichts der Tatsache, dass wir mehr gemeinsame Entscheidungen treffen sollten – was ja in sich ein Widerspruch zu sein scheint –, ein Optimist geblieben?

    Â 
    Im Grunde meines Herzens bin ich immer ein Optimist geblieben. Das würde ich nie leugnen. Als Grund für meinen Optimismus könnte ich auch auf eine kurze Darstellung der Geschichte nach 1945 verweisen.
    Â 
    Die da wäre?
    Â 
    Wenn mir am 8. Mai 1945 einer die Entwicklung unseres Landes oder Europas vorausgesagt hätte, ich hätte ihn für einen Narren gehalten. Sie hat dann aber alle Erwartungen übertroffen.
    Â 
    Und warum?
    Â 
    Es würde etwas dauern, wenn ich Ihnen das erzähle.
    Â 
    Wir haben Zeit.
    Â 
    Na gut. Der 8. Mai 1945 war der Tag, an dem in der amerikanischen Armeezeitung Stars and Stripes – das war im Gefangenenlager unsere einzige Nachrichtenquelle – von der bedingungslosen Kapitulation berichtet wurde. Ich konnte ein bisschen Englisch, und so habe ich das Gelesene übersetzt und an eine Holztafel gehängt.
    Â 
    Mit welchem Gefühl?
    Â 
    Nicht im Gefühl der Befreiung – das zu behaupten, wäre nicht redlich. Aber ich war erleichtert darüber, dass das Morden und Töten ein Ende gefunden hatte. Endlich waren auch die Luftangriffe vorbei. Aber gleichzeitig war ich ebenso mit unserer totalen Niederlage konfrontiert. Weizsäcker schilderte diese Schwankungen in den Wahrnehmungen ja in seiner berühmten Rede vom 8. Mai 1985.
    Aber nun: Wenn uns am 8. Mai 1945 dort im Gefangenenlager einer gesagt hätte: »Kinder, regt euch nicht so auf! Ich weiß, jetzt seid ihr verzweifelt, aber ich bitte euch, in vier Jahren werdet ihr ein Grundgesetz haben, das mit seiner Werteordnung eine Antwort auf das NS-Gewaltregime gibt. Ihr werdet einen Rechts-und Sozialstaat konstituieren, eine

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