Wie wollen wir leben
Stuttgarter Rede des US-AuÃenministers
James Byrnes im September 1946, die als »Hoffnungsrede« aufgenommen wurde. Denn sie kündigte eine Wende in der Besatzungspolitik der Vereinigten Staaten an und verwarf den Morgenthau-Plan. Danach folgte, knapp zwei Wochen später, am 19. September, die Rede von Winston Churchill in Zürich, in der er von einem gemeinsamen Europa sprach â wenn auch ohne GroÃbritannien. Insbesondere die Feststellung Churchills, dass ein zukünftiger Friede nur über eine Verständigung zwischen Deutschland und Frankreich zu erreichen sei, war damals geradezu visionär. Und als dann der Marshallplan 1948 in Kraft trat, so war das doch ein gewaltiger Unterschied zu dem Vertrag von Versailles 1919. Es gab nach dem Zweiten Weltkrieg eine Siegermacht, die dem besiegten Volk half und dadurch auch bestimmte emotionale Empfindungen auslöste. Später hatte die weitere Hilfe natürlich auch etwas mit dem wachsenden Ost-West-Konflikt zu tun. Ob das alles nur ökonomischen Ãberlegungen entsprang, bezweifle ich doch sehr.
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In Ansätzen hatten wir über christliche, humanistische Werte versus ökonomische, realpolitische Werte gesprochen. Hätten sich die Siegermächte an christlichen Werten orientiert, speziell katholischen, hätten sie dann nicht â überspitzt formuliert â sagen müssen: »So, jetzt müsst ihr erst einmal sühnen«? Das wäre eine völlig andere Entscheidung gewesen als die, die dann getroffen wurde, die eher dem kapitalistischen Prinzip folgte.
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Da muss ich Ihnen widersprechen. Diejenigen, die uns schon 1945 geholfen haben, das waren gerade christliche Gruppen, die Quäker beispielsweise. Wenn ich mir allein vorstelle, was München an Hilfe aus der Schweiz, aus dem protestantischen St. Gallen erhalten hat. Da kommen einem keine christlich begründeten Sühneforderungen in den Sinn. Im Ãbrigen ist es ja auch ein christlicher Gedanke â ich will jetzt nicht sagen: »Liebet eure Feinde« â, aber dass man sich versöhnt. Auch wenn der amerikanische Präsident Harry Truman sich nicht in erster Linie aus christlichen Erwägungen für den Marshallplan und für das Nein zum Morgenthau-Plan durchgerungen haben sollte.
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Sie glauben tatsächlich, dass die ökonomischen Werte gegenüber den christlichen nicht überwogen?
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Sie standen sich jedenfalls nicht in der Quere.
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Aber sind ökonomische Interessen nicht manchmal auch gute Kriterien für eine Entscheidung?
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Es ist immer eine Frage der VerhältnismäÃigkeit. Und will man hier die Bibel anführen, dann könnte man dieses berühmte Gleichnis von den anvertrauten Talenten zitieren, das im Matthäus- und im Lukasevangelium überliefert ist. In dieser Erzählung schildert Jesus einen Mann, der für längere Zeit verreisen will und sein Vermögen seinen Knechten anvertraut. Er rief sie zu sich, und dem einen Knecht überlieà er fünf Talente Silbergeld, dem zweiten zwei und dem dritten eines, je nach den Fähigkeiten der Knechte. Ihr Auftrag war: »Macht Geschäfte damit, bis ich wiederkomme. « Als der Mann nach langer Zeit zurückkehrte, mussten die Knechte Rechenschaft ablegen. Der, der fünf Talente erhalten hatte, brachte fünf weitere. Dafür bekam er höchstes Lob. Der Knecht, der zwei Talente erhalten hatte, zeigte seinem Herrn, dass er noch zwei dazugewonnen hatte. Er wurde auch noch höflich behandelt. Der letzte Knecht übergab aber nur sein eines Talent, mit der Begründung, er hätte so viel Angst vor der Strenge des Herrn gehabt, dass er das eine Talent einfach nur in der Erde versteckte. Dieser Knecht wurde übel beschimpft, denn er hatte nicht gewirtschaftet. Danach können Christen durchaus auch ökonomische Aspekte in Betracht ziehen.
Ãber Widerstand im eigenen Land, Thilo Sarrazin und Herrn von und zu Guttenberg
Wo stehen wir? Diese Frage ist kürzlich von einem Zeitzeugen beantwortet worden, der in seinem Leben noch ein paar Jahre mehr überblickt als Sie. Stéphane Hessel wurde 1917 in Berlin als Sohn des jüdischen Schriftstellers Franz Hessel geboren, war Widerstandskämpfer in der Résistance, er hat das Konzentrationslager Buchenwald überlebt und jetzt eine kleine Streitschrift geschrieben, die in Frankreich ein Bestseller geworden ist: Empört Euch! wurde 2011 ins Deutsche
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