Wie wollen wir leben
waren zwei Jahre tätig im Stadtrat, als Sie zum Oberbürgermeisterkandidaten gekürt wurden â heute würde man das eine Blitzkarriere nennen, oder?
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Ja, wobei ich tatsächlich zunächst die heute geschmähte Ochsentour absolviert habe. Ich bin zwar kein Ochse, ich bin ein Vogel, aber ich habe in meinem Ortsverein in München-Freimann angefangen, in dem hauptsächlich Arbeiter vom früheren Reichsbahnausbesserungswerk Mitglieder waren. Und ich muss Ihnen sagen, in meinem ganzen politischen Leben hat mich kaum etwas so befriedigt und stolz gemacht wie die Tatsache, dass ich innerhalb von zwei Jahren das Vertrauen dieser Menschen erworben habe. Der Sektionsvorsitzende wurde damals schwer krank, und dann kamen die auf mich zu und haben gesagt: »Das musst du machen!« Dieser Vertrauensbeweis gegenüber einem Akademiker, einem praktizierenden Christen zumal, war in der Sozialdemokratie damals schon etwas durchaus Unübliches. Ja, und dann war ich Kreisvorsitzender, arbeitete von 1955 bis 1958 in der Staatskanzlei bei dem Sozialdemokraten Wilhelm Hoegner, dem bislang einzigen
Ministerpräsidenten Bayerns nach dem Zweiten Weltkrieg, der nicht der CSU angehörte.
1958 brauchte man einen Rechtskundigen für das Rechtsreferat der Landeshauptstadt. Die Sache mit der Kandidatur als Oberbürgermeister war dann für mich zunächst eine groÃe Ãberraschung. »Meint ihr das wirklich ernst?«, fragte ich die maÃgebenden Leute. Mein Gegenkandidat Dr. Josef Müller war ein auch in München bekannter Landespolitiker und deutlich über sechzig, ich war fast dreiÃig Jahre jünger. Thomas Wimmer, mein Amtsvorgänger, war knapp vierzig Jahre älter als ich. Aber sie blieben bei ihrer Meinung: »Wir wollen es mit dir versuchen.« Erstaunlicherweise hatten sich auch ein paar bekannte Zeitungsleute in diesem Sinne geäuÃert, hier denke ich zum Beispiel an Werner Friedmann, damals Chefredakteur der Süddeutschen Zeitung. So ermutigt, sagte ich dann: »Wenn ihr das meint, ich trau mir die Arbeit zu.«
In diesem Zusammenhang muss ich aber noch eine kleine Geschichte erzählen. Ich bin vor einiger Zeit gebeten worden, mich an einem kleinen Büchlein mit einer kurzen Bemerkung zu beteiligen, es trägt den Titel Zeitreise Bonn. In dem Buch spielt infas, das Bonner Institut für angewandte Sozialwissenschaft, eine Rolle. Während der Zeit meiner Kandidatur als Oberbürgermeister war es gerade gegründet worden, und diejenigen, die sich innerhalb der SPD um meine Wahl kümmerten, hatten mit infas Verbindung aufgenommen. Sie bekamen die Empfehlung, sie sollten um Gottes willen kein Porträt von mir als Wahlplakat aufhängen, das würde die Leute schockieren. Ãberall würde man auf den Plakaten alte, gefestigte Kandidaten sehen â und dann dieser junge Kerl. Das sollte man besser nicht tun. Diesen Ratschlag befolgten wir aber nicht, und mein Konterfei hat die Leute nicht schockiert, sondern offenbar eher günstig beeinflusst.
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Haben Sie sich eigentlich immer älter gefühlt im Vergleich zu den Gleichaltrigen?
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Ein bisschen schon, ja. Im Krieg teilten meine Alterskameraden und ich die gleichen Lebenserfahrungen, aber anschlieÃend war
bei mir schon alles verdammt dicht. Mein Studium absolvierte ich in zweieinhalb Jahren, die zweite Staatsprüfung machte ich auch sehr schnell, dann war ich im Bayerischen Justizministerium, danach Amtsrichter in Traunstein, schlieÃlich arbeitete ich â wie schon erwähnt â in der Staatskanzlei. Und zwar an der Bereinigung des Bayerischen Landesrechts. Dort suchte ich â natürlich mit anderen zusammen â aus 172 Bänden die Vorschriften heraus, die seit 1806 erlassen worden waren und jetzt noch gebraucht wurden. Die füllten dann nur noch vier Bände. Bei dieser Gelegenheit habe ich eine Menge gelernt.
Sehen Sie, das war alles sehr dicht, und dadurch habe ich mich etwas erfahrener gefühlt. Und die politischen Erfahrungen, die ich als junger Sozialdemokrat machte, taten ihr Ãbriges dazu. Ich traf auf Menschen wie Waldemar von Knoeringen, der für die bayerische SPD nach dem Krieg eine zentrale Rolle spielte. Er war eine der Persönlichkeiten â und jetzt verwende ich einmal das Wort â, die wirklich ein besonderes Charisma besaÃen. Und er hat sich um junge Leute wie mich wirklich gekümmert. Waldemar hat mich unglaublich
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