Wie wollen wir leben
beeindruckt, besonders dann, wenn er aus der Emigration erzählte oder aus der Zeit unmittelbar vor 1933. Er hatte auch eine bildhafte Sprache und sah weit in die Zukunft. Ich muss mich jetzt in Gedanken vor ihm verneigen. Er war übrigens der Erste, der mir einen Brief schrieb, in dem stand, ich müsse eines Tages Parteivorsitzender der SPD werden.
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Von wann ist der datiert?
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Den hat er mir in der zweiten Hälfte der sechziger oder Anfang der siebziger Jahre geschrieben.
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Ein Visionär.
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Na ja. Sicher war es ein Zeichen seiner Wertschätzung für mich.
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Das bestimmt auch. â Sie waren damals ein junger Mann, offensichtlich strebsam und fleiÃig und von einem sehr hohen Ernst getrieben. Da fragt man sich, wo war denn die Zeit der Unvernunft, des Sich-Gehenlassens, des Ausprobierens, der jugendlichen Ausschweifungen? Haben Sie eine Jugend dieser Art eigentlich vermisst?
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Eigentlich nicht. Denn sehen Sie, für all das war ja schon im Krieg kaum Gelegenheit gewesen.
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Danach aber hätte man â¦
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Danach standen existenzielle Fragen im Vordergrund. Und vor dem, was Sie sonst angedeutet haben, hat mich auch bewahrt, dass ich schon 1950 das erste Mal heiratete. Dann, nach einem Jahr, kam bereits das erste Kind, ein Sohn. Eine Phase, wie Sie sie gerade beschrieben, habe ich deshalb weder gehabt noch vermisst.
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Was haben die Wähler wohl in Ihnen gesehen? Was waren die Eigenschaften, die Sie, den relativ jungen, noch relativ unbekannten Politiker, dann ins höchste Amt in München gebracht haben?
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Im Einzelnen will ich das nicht analysieren, sonst würde ich wohl als Lobredner meiner selbst erscheinen. Aber ich denke, dass ich den Menschen sympathisch und dass ich glaubwürdig war. Das, was ich ihnen vortrug und was ich in meinem kurzen Programm geschrieben habe, nahm sie offenbar für mich ein. Ich habe es dann in München ja auch verwirklicht. Es lag auch ein bisschen an der Konkurrenz. Der von mir persönlich sehr respektierte Dr. Josef Müller â genannt der »Ochsen-Sepp«, weil er als Bub mit einer Ochsenkarre auf den Acker fuhr â hatte, oft im Streit mit Alois Hundhammer, wesentlich dazu beigetragen, dass aus der katholischen Bayrischen Volkspartei der Weimarer Zeit die Christlich-Soziale Union wurde, in der evangelische Mitglieder genauso mitarbeiteten wie katholische. 1959/60 war er aber aufgrund von Schwierigkeiten â auch persönlicher Art â schon längst nicht mehr Parteivorsitzender und auch nicht mehr Justizminister. Von diesem Amt â in dem er übrigens meine erste Ernennungsurkunde unterschrieb â musste er sogar während einer laufenden Legislaturperiode zurücktreten. Er war einer, der schon am Ende seiner politischen Laufbahn stand.
Da haben die Münchner und Münchnerinnen eben gemeint, man sollte es wohl lieber mit dem jungen Kandidaten versuchen als mit einem, der sich eigentlich schon im »Austrag« â so nennt man das in Bayern â befand. Der eine oder andere erkundigte sich
auch nach meiner Familie, und da konnte ich mit dem Stadtbaurat Arnold Zenetti dienen, der in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts den Münchner Schlacht- und Viehhof gebaut hat und der zusammen mit dem Chemiker und Hygieniker Max von Pettenkofer die erste Kanalisation in der Landeshauptstadt schuf. Ein anderer aus der Zenetti-Familie war Abt von Sankt Bonifaz. Ein solcher UrgroÃonkel war für einen Sozialdemokraten damals eher ungewöhnlich. Ich habe das nicht irgendwie plakatiert, aber wenn gefragt wurde, gab ich Auskunft â und das sprach sich herum.
Und noch etwas: Sie wissen ja, dass in München der Salvatoranstich auf dem Nockherberg, der mit dem verbunden ist, was man in München einen Politiker »derbleckân« nennt, eine groÃe Rolle spielt. 1960 war der Anstich etwa zehn oder vierzehn Tage vor der Wahl. Die Veranstalter hatten sich deshalb etwas Besonderes einfallen lassen. Sie sagten sich: »Wir laden die vier Kandidaten ein« â also den »Ochsen-Sepp« von der CSU, dann den Adolf Hieber von der Bayernpartei, meine Wenigkeit und noch einen AuÃenseiter, den Dr. Dr. Dr. Hans Keller, der parteifrei war. Es wurden vier Bierfässer aufgestellt, danach folgte ein Wettanzapfen. Und dieses Wettanzapfen habe ich dank glücklicher Umstände und weil ein mir offenbar Zugeneigter mir etwas aus dem Hintergrund zugerufen
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