Wiedergaenger
soll es
begreifen, wenn nicht sie, wie ein jeder so tief sinken kann,
unfassbare Schuld auf sich zu laden? Nicht zuletzt deshalb hat sie
ihn ja genommen, ihren Jón. Den keine Isländerin heiraten
wollte, so schlecht stand es seit jener Sturmnacht vor
zweihundertfünfundzwanzig Jahren um den Ruf der Familie in der
Gemeinde. Nicht nur die Geister sind nachtragend auf dieser Insel.
Sie lässt den Wagen vor dem Haus ihrer Großeltern
stehen. Es ist warm, sie braucht den Parka nicht, ein metallgrauer
Fliegerparka mit Webpelzkapuze, zu Hause muss sie dringend das
Winterfutter herausnehmen. Sie trägt ihn über dem Arm und
lässt sich nass regnen. Das Wasser schlägt Blasen auf dem
Pflaster. Es ist ein Gefühl wie unter der kalten Dusche im
Freibad, so sehr gießt es, ein Wolkenbruch, der seit den
Mittagsstunden nicht nachgelassen hat. Harte Tropfen prasseln auf Liv
nieder, dröhnen im Kopf und durchdringen ihre Kleider, die
Jeans, den Kapuzenpulli, die Unterwäsche, alles saugt sich voll,
wird schwer und klebt an ihr. Der Regen riecht nach Blütenstaub.
Liv geht schnell. Niemand sonst ist unterwegs in St. Gertrud,
einem bevorzugten Gründerzeitquartier am Rand der Altstadt.
Ãœberall Altbauten in, Klassizismus und Jugendstil, nichts
wirklich Protziges, doch Tönges hofft erwähnt nicht, dass
ihm das Reihenhaus in der Ratzeburger Allee, das Henny und er zuvor
bewohnt haben, besser gefiel.Jetzt die Scheidung – aus seiner
Sicht vermutlich eine unnütze Geldausgabe.
Sie versucht, sich aus seiner Abwesenheit einen Reim zu machen.
Dass er sich für ein paar Tage zurückzieht, ist früher
schon vorgekommen. Meistens war er dann irgendwo zum Angeln, soweit
sie weiß.Als sie noch zusammen gearbeitet haben, hat er sich
vor solchen Kurztrips meistens abgemeldet: »Bin mal ein paar
Tage nicht zu erreichen. Du kommst hier ja allein klar.« Das
ist lange her. Jetzt wird er in der Firma nicht mehr gebraucht, auch
wenn sie sich halbherzig bemüht hat, ihm das Gegenteil zu
vermitteln. Warum also Bescheid sagen? Wenn sie nur etwas für
ihn tun könnte. Liv wählt seine Handynummer. Das Gerät
ist abgeschaltet.
Allmählich wird es dunkel, hinter den geputzten Fenstern
gehen die Lichter an. Familien sitzen zusammen, manche schon vor dem
Fernseher, andere noch beimAbendessen. Elegante Möbel, heiles
Geschirr. Jedem seine Fassade. Im Grunde spricht vieles dafür,
man macht es sich nett, schminkt sich und sein Haus und fällt
niemandem zur Last. Wer will schon seine Nachbarn dauernd nackt sehen
mit all ihren Narben? Liv rupft einen Zweig von einer tief rosa
blühenden Zierkirsche. Sie hat sonst nichts gegen das Viertel
mit seinem gediegenen Wohlstand, aber an diesem Abend hätte sie
Lust, Straßenlaternen und Parkbänke zu demolieren, wie
früher mit ihrer Clique. Sie war gern das Mädchen mit den
falschen Freunden.
Zu Hause ist Aaron auf Streit aus. Nach der Devise: Angriff ist
die beste Verteidigung, kommt er Liv schlaksig im Flur entgegen und
baut sich auf seine undynamische Art vor ihr auf. »Die ganze
Woche warst du weg, und es war überhaupt nichts zum Essen im
Kühlschrank. Ich musste jeden Tag was bestellen, und jetzt habe
ich kein Taschengeld mehr. Ganz toll.«
»Wie schön, dass du dir so gut zu helfen weißt.«
Sie schiebt ihren Sohn zur Seite und betritt das Wohnzimmer, an
dessen Zustand sich nichts geändert hat, außer dass die
Luft deutlich besser ist und der Fernseher läuft. Liv steht
still und tropft, auf dem Parkett zu ihren Füßen bildet
sich sofort eine Pfütze.
»Du bist ja total durchnässt«, stelltAaron fest.
»Was du nicht sagst.«
»Und wieso?«
»Weil es in Strömen regnet.«
Sichtlich irritiert deutet er auf den Parka. »Warum hast du
denn die Jacke nicht angezogen?« Seine Stimme verrät
Beunruhigung.Teenager wollen nicht, dass Erwachsene sich merkwürdig
verhalten, auch wenn sie ihnen selbst ständig Rätsel
aufgeben.
»Aaron, kümmere dich um deinen eigenen Scheiß«,
sagt Liv und zieht sich ins Bad zurück, wo sie sich der nassen
Sachen entledigt und sich vor den Spiegel stellt. Keine Veränderung.
Sie sieht nicht aus wie eine Frau, die imstande wäre, einen Mord
zu begehen.
Er hämmert gegen die Tür. »Und was, bitte, ist
mein eigener Scheiß?«
»Das Wohnzimmer zum Beispiel. Das kann so ja nicht bleiben.
Räum da auf.«
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