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Wiedergaenger

Wiedergaenger

Titel: Wiedergaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexandra Kui
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Zeit, lange bevor
das Holzhaus und die Stallungen entstehen. Die Familie lebt beengt in
einem niedrigen Grassodenbau, mehr Hütte als Haus, Menschen und
Schafe unter einem Dach, für eine Kuh reicht es nicht. Ein
Fenster: doppelt handtellergroß. Nicht einmal unter dem
Firstbalken kann der Bauer aufrecht stehen. Und doch: für einen
Wanderer, der zu erfrieren droht, ein Himmelreich.
    Schneebedeckt, das bärtige Haupt mit einem Eispanzer
überzogen,pocht der Braune gegen das Fenster und sagt: »Hér
sé gu ð – hier sei Gott«, wie es Brauch ist,
damit die Leute im Haus wissen, dass es sich bei dem Besucher nicht
um einen Geist handelt. Denn die dürfen den Namen
desAllmächtigen nicht aussprechen.
    Als geöffnet wird, will ihm das Sprechen nicht gelingen, die
Maske aus Frost lähmt seine Lippen, er stöhnt wie ein
Raubtier, und doch ist es für den Bauern Jón nicht schwer
zu erraten, worum es geht. Ein Mensch in höchster Gefahr fleht
um Hilfe.
    Und wird abgewiesen.
    Â»Gleich dort hinten gibt es Höhlen, wo du Schutz finden
wirst.Aber hüte dich vor den heißen Quellen.« Ein
knapper Rat, ein vager Fingerzeig. Mehr hat Jón in dieser
Sturmnacht nicht zu geben. Er begeht einen Fehler, und sicher weiß
er das, wie die meisten Menschen genau wissen, wenn sie etwas
Falsches tun, gefangen in einem bitteren Augenblick, und nicht anders
können oder wollen oder beides. Womöglich ahnt der Bauer
bereits, dass dies die Schicksalswende für den Hof und die Sippe
ist: vom leidlich Schlechten hin zum Katastrophalen.
    Denn der Braune beschimpft ihn im Gehen, die Kraft für Flüche
übelster Sorte hat er noch, aber er schafft es nicht zuden
Höhlen. Unweit des Hofes gerät er in ein siedend heißes
Schlammloch und stirbt, umhüllt von Schwefelgestank, unter
Qualen an seinen Verbrennungen, noch bevor der allgemein als gnädig
bekannte Kältetod ihn holen kann.
    Als Jón selbst den Leichnam Tage später findet, sorgt
er für ein ordentliches Begräbnis – und verhängt
ein Gelübde des Schweigens über sich und seine Familie.
Nein, sagt er dem Pfarrer, er habe den unbekannten Toten auf seinem
Land nie zuvor gesehen. Kein Mensch soll je die Wahrheit darüber
erfahren, was im Schneesturm geschah. Doch mit der Wahrheit in einer
Dorfgemeinschaft ist es wie mit der Lava im Innern der Erde: Sie
brodelt und faucht unter der Oberfläche, gibt keine Ruhe, sodass
kein Lügner sich jemals vor ihr sicher fühlen kann, und
irgendwann, wenn es ihr gefällt, bricht sie ans Licht, mal in
einer gewaltigen Explosion, mal schleichend. Und so geschieht es.
    Sonntags nach der Kirche beginnt das große Flüstern:
»Man hört, er hat den Fremden abgewiesen, neulich im
Sturm.«
    Â»Ja, man hört so einiges.«
    Â»Mit einem Tritt in den Hintern vom Hof gejagt hat er den
Fremden, mehr tot als lebendig.«
    Â»Was du nicht sagst. Das ist nicht gut, gar nicht gut. Das
schlägt zurück.«
    Â»Ja, das schlägt zurück.«
    Die Zeit der Heimsuchung hat begonnen. Der Braune verschafft sich
Zutritt in die Träume des Bauern,denn nun gibt es auf Erden
nichts mehr, das ihn aufhalten kann. Er schwört, Jón und
seine Söhne zu verfolgen bis ins neunte Glied.
    Neun Generationen Unheil. Der Enkel wird demnach das letzte Opfer
werden. Fritzi, den Tod des jungen Wanderers als Wachtraum vor Augen,
fragt sich wie bereits unzählige Male zuvor, was den Urahnen
ihres verstorbenen Mannes einst davon abhielt, dem Braunen Zuflucht
vor dem Schneesturm zu gewähren. Die Armut? Nach einem
verheerenden Vulkanausbruch herrschte Hunger im Land, immerfort
klopfte bettelarmes Volk an die Tür, und Jón hatte eine
Frau, deren Mutter, die eigenen Eltern und vier Kinder zu ernähren,
drei weitere waren bereits gestorben. Doch er hätte ja nicht
unbedingt sein Brot mit dem Fremden teilen müssen, ein Platz vor
dem Herdfeuer, sogar bei den Schafen im Stall, hätte ausgereicht
– und vielleicht ein wärmender Schluck Brennivín.
Kannte er den Braunen womöglich und wollte auf
    diese Weise eine offene Rechnung begleichen? Oder hatte er in das
Antlitz des Bösen geblickt, als der eisverkrustete Mann vor der
Tür stand, und schickte ihn fort, um seine Kinder zu schützen?
War der alte Bauer Jón am Ende selbst ein schlechter Mensch?
Nein, ganz sicher nicht.
    Fritzi wischt sich eine Träne von der Wange. Wer

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