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Wiedergaenger

Wiedergaenger

Titel: Wiedergaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexandra Kui
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riskiert es sogar, sie an der Schulter festzuhalten, damit
sie ihn nur ja nicht vergisst.
    Liv wirbelt herum. »Was?«
    Â»Pardon.« Henny weicht zurück. »Deine
Jacke.«
    Â»Danke.«
    Henny schnieft. »Ich rufe die Polizei.«
    Â»Tu das. Das ist mir so was von egal«, entgegnet Liv
in der Annahme, ihre Großmutter wolle wegen des zerschlagenen
TeeserviceAnzeige gegen sie erstatten.
    Â»Wegen Tönges. Weil er doch verschwunden ist«,
jammert Henny.
    Da ist es wieder, dieses lächerliche Wort, das Liv vorhin
schon nicht an sich heranlassen mochte. Es wird jemandem wie Tönges
einfach nicht gerecht. »So ein Quatsch, er ist nicht
verschwunden«, sagt sie. »Er hat dich einfach nur satt.
Geht mir übrigensgenauso.Also, auf Wiedersehen.«
    Die Tür fällt zu, und Liv steht im Regen.
    Der Fluch:Als er aufbricht, ist Frühling. Weidenkätzchen
knospen, Singvögel zwitschern und das Blaubeerkraut öffnet
seine Blüten, weiß und rot. Die Sonne hat schon Kraft,
ihre Strahlen vergolden die schroffe Küstenlandschaft. Er ist
sehr jung und hat es eilig, wie alle jungen Leute. Eine Schwäche
der Jugend, dieses Ungestüm, dauernd die Befürchtung, etwas
zu versäumen, die schon manchen taufrisch ins Grab brachte.
Seine Jugend lässt ihn über die Warnungen der Alten mit
einem Lächeln hinweggehen.
    Â»Sturm kommt auf«, sagt sein Freund, der Fischer. »Der
Wind dreht auf Nord.«
    Nordwind? Und wenn schon. Die Luft vom Polarkreis bläst einem
ordentlich den Kopf frei.
    Â»Es gibt Eis und Schnee«, sagt der Kaufmann. »Ich
spür's in den Knochen.«
    Eis und Schnee? Pah! Sein Herz brennt so heiß, es ließe
die Gletscher schmelzen, denn er ist verliebt. Die Braut wartet in
der Stadt, unbefleckt und elfenschön, und wenn er etwas weiß
über elfenhaft schöne Jungfrauen, dann, dass ihre
Bereitwilligkeit zu warten selten von Dauer ist – ebenso wenig
wie ihre Schönheit.Also bricht er auf. Er hat einen Plan: Vom
Landesinneren wird er sich fernhalten, zu gefährlich, jedoch
wenn er das Meer zur Linken stets im Blick behält, die
Steilküste passiert, Bergpässe meidet und erst auf der
Halbinsel in nördliche Richtung wandert, wird ihm kein
Wintereinbruch etwas anhaben können, zumal die Gegend mit heißen
Quellen gesegnet ist. Nicht zu vergessen sein warmer Mantel:
Rentierleder, schafsfellgefüttert, ursprünglich von
feinster Qualität. Ein Erbstück vom Vater des Vaters,
betagt, aber immer noch gut zu gebrauchen.
    Zunächst ist die Heimreise ein Spaziergang. Das schroffe Land
fast ein Idyll. Obschon nicht von heiterem Naturell, kommt es vor,
dass der Braune, wie er nach der Farbe seines Zottelbarts, des
Lockenkopfs und besagten Mantels spöttisch genannt wird, ein
Lied auf den Lippen führt. Dann aber fällt die Temperatur
blitzschnell. Beim Auftaktt eines uralten Rimurs aus dem Jahrhundert
der Landnahme ist die Luft noch mild und lieblich, Insekten
umschwirren ihn, als sei bereits Sommer.
    Fünf Strophen weiter eine andere Welt.Tiefhängende
Wolken schieben sich aus dem Nichts vor die Sonne, das Licht
schwindet: Gold zu Silber, Silber zu Asche. In Strophe sechs beginnt
es zu schneien, Strophe acht schmettert er den ersten kräftigen
Böen entgegen, die elfte Strophe lässt er sein. Jetzt gibt
ein Orkan den Ton an: treibt Schnee vor sich her und dem Wanderer
direkt in die Augen, schwere Flocken, die in kürzester Zeit die
Erde bedecken. Das Unwetter kreischt in seinen Ohren, dass er taub zu
werden glaubt, jeder Windstoß fährt ihm durch die Kleider
bis ins Mark, als wäre der Mantel bloß ein dünnes
Hemd,weiter nichts. Der Braune ist fast blind und kann nichts hören,
jeder Schritt wird bald zur Qual. Wo sind die Berge, wo das Meer?
Was, wenn er im Kreis geht?
    Er bekommt es mit der Angst zu tun. Hielt er sich bislang für
einen echten Teufelskerl, muss er nun einsehen, dass seine Tapferkeit
Grenzen hat.An die stößt er bereits nach wenigen Stunden
Kampf gegen die Naturgewalten, und Stunden sind gar nichts,
Schneestürme dieser Art können Tage dauern, das ist ihm
bewusst. Dem Braunen ist schier zum Schluchzen zumute, und der Orkan
mit seinem Geheule verhöhnt ihn dafür.
    Was für ein Anblick in dieser Not der schwache Lichtschein
eines Gehöfts, was für ein Aroma der Rauch des Torffeuers.
Bjarg ist kaum mehr als ein Elendsquartier zu jener

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