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Wiedergaenger

Wiedergaenger

Titel: Wiedergaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexandra Kui
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Mensch als sie und Tönges: zurückhaltender,
trauriger.
    Anschließend ihr Versuch, von dem Vorfall auf Fehmarn
abzulenken: »Wenn Sie sich hier umsehen, finden Sie es nicht
merkwürdig,wie Tönges die Laube hinterlassen hat? Die
Lebensmittel im Kühlschrank, die Aussaat, der halb ausgepackte
Koffer.«
    Der Beamte gähnte. »Nein, überhaupt nicht. Ich
sehe keinerlei Anzeichen eines Verbrechens, keine Spuren von Gewalt.
Ich sage Ihnen, was ich denke: Ihr Großvater hatte die Schnauze
voll. Von allem. Von der geplanten Scheidung, die nicht auf seinem
Mist gewachsen war, von seiner Firma, in der seine Meinung nichts
mehr galt, von seiner Familie, die seine Abwesenheit wochenlang nicht
einmal bemerkt. Er war mehr als unzufrieden, und über diesen
ganzen Frust konnte ihn sein Garten Eden hier auch nicht
hinwegtrösten.Also hat er sich spontan ein neues Lebensumfeld
gesucht, so heißt das im Beamtendeutsch. Was er vor gut vierzig
Jahren übrigens schon einmal getan hat, wie Ihre Großmutter
zu berichten wusste, und was sein gutes Recht ist. Er ist ein
unbescholtener, freier Bürger.«
    Das Recht zu verschwinden. Wie gern hätte Liv dies einst für
sich reklamiert – allerdings gilt es nicht für Teenager.
»Sie suchen also gar nicht nach Tönges?«
    Â»Es ist nicht Aufgabe der Polizei,Aufenthaltsermittlungen
durchzuführen, wenn ein erwachsener Mensch im Vollbesitz seiner
körperlichen und geistigen Kräfte beschließt, das
Weite zu suchen, ohne seine zerrüttete Familie darüber ins
Bild zu setzen.«
    Â»Unsere Familie ist nicht zerrüttet. Nur weil wir nicht
andauernd zusammenglucken. « »Wie Sie meinen.«
    Liv verbiss sich weitere Kommentare. Sie konnte dem Mann kaum
Einmischung ins Privatleben der Engels vorwerfen. Ihr missfiel die
Vorstellung, er könnte sie für eine Horde von zänkischen
Proleten halten, mit einem frustrierten Herumtreiber als
Familienoberhaupt.
    Â»Wenn Sie wüssten, wo mein Großvater sich
aufhält, würden Sie es mir sagen?«
    Â»Nur mit seiner Zustimmung.«
    Â»Wissen Sie es?«
    Â»Nein. Denn wie gesagt, wir fahnden ja nicht nach ihm.«
    Â»Und es gibt nichts, was ich tun kann?«
    Â»Kümmern Sie sich um die Kartoffeln. Es wäre doch
schade drum.« Er deutete auf eine Kiste, in der die Linda
bereits ausgetrieben hatte.
    Und hier ist sie nun und wühlt im Dreck.Etwas Besseres weiß
sie an diesem Frühlingstag ohnehin nicht mit sich anzufangen.
    Nachts liegt Liv wach. Sie schläft sonst meist gut, neigt
nicht zum Grübeln über die Probleme des Tages, seien sie
beruflicher oder privater Natur. Die Sache mit Tönges ändert
dies. Sie hat sich nie zuvor auf eine so zermürbende Weise wegen
eines anderen Menschen das Hirn zermartert, wozu auch? Man wird
direkt zum Sklaven, wie sich jetzt zeigt. Trotz angenehmer
Raumtemperatur, bequemer Matratze und ausreichender Müdigkeit
will es ihr nicht gelingen, einzuschlafen, nicht einmal, nachdem sie
das Radio eingeschaltet hat, ein Trick aus ihrer Kindheit, der
bislang immer funktionierte. Diesmal zeigt das sanfte Gefiedel des
Klassiksenders keinerlei Wirkung, weil sie immerzu ihren Großvater
vor sich sieht: im Straßengraben, überfahren von einem
dieser Halbstarken mit Mecklenburger Kennzeichen, Opfer einer
Fahrerflucht. Tönges mit einem Messer im Bauch, verscharrt nach
einer Kneipenschlägerei, die er aus Langeweile angezettelt hat.
Tönges in Not.
    Unsinn. Dann hätte man ihn längst gefunden. Viel
wahrscheinlicher: Der Polizist hat recht. Tönges, angesichts der
Umstände höchst unzufrieden, ist stiften gegangen. Hat
seiner Intuition gehorcht, die hässliche Cola-Tasche gepackt und
sich mit dem Fahrrad auf den Weg in eine nettere Welt gemacht. Wo
auch immer er die zu finden hofft.
    Die verstörenden Bilder bleiben trotzdem.Angenommen, sie
sehen sich nie wieder, was war dann das Letzte, was er zu ihr gesagt
hat? Vor dem Restaurant in Burgstaaken: Nach dem Osteressen stand die
Familie noch eine Weile betreten auf dem Parkplatz herum, Tönges
dicht neben ihr. Was waren seine Worte? Liv grübelt, dann fällt
es ihr ein: »Das war ja wohl nix. Für die maue Fischplatte
lohnt es sich jedenfalls nicht, wieder herzukommen.« Klingt das
nach Abschied?
    Â 

Familie
    Montagnachmittag bei Niederegger. Ein Gewimmel von Rentnerinnen
und Touristen, Asiaten vornehmlich, die meisten in

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