Wiedergaenger
überschätzt hat. Sie trennt mit der
Kuchengabel ein großes Stück Baumkuchen ab und steckt es
sich in den Mund. Es ist trocken und sehr süß, tadellos
eigentlich, ein Baumkuchen, wie er sein sollte, aber sie hat keinen
Appetit darauf, jetzt erst recht nicht mehr.
»Ach, Liv«,sagt Henny, »nimm es nicht
persönlich. Tönges hat nie über Inga gesprochen. Ihr
Verlust war zu schmerzlich für ihn. Und du hast eine ähnliche
Art wie sie, sicher wollte er dich nicht belasten, indem er dir von
ihr vorschwärmt. Was hättest du auch damit anfangen können?
Du hast sie ja nicht gekannt.«
»Aber du anscheinend«, sagt Liv und räuspert
sich, als sie merkt, wie beleidigt sie klingt.
»Ja, natürlich. Ich habe Tönges und seine
Schwester nach dem Krieg kennengelernt. Vor sechzig Jahren. Zwei
Jahre vor ihrem Verschwinden. Wahrscheinlich hast du recht, und sie
ist längst tot.«
Liv schwirrt der Kopf. Tönges als Herumtreiber, seine
verschollene Schwester, heißgeliebt und unvergessen, Utz, ihr
eigener Vater, beinahe abgetrieben. Die diffuse Fremdheit, die sie im
Umgang mit ihrer Familie seit jeher empfunden hat, bekommt schärfere
Konturen. Es sind Verwandte, sicher, aber was weiß sie schon
von ihnen? So gut wie nichts. Prinzipiell keine Feststellung, die Liv
niederschmettern würde, träfe sie nicht in besonderem Maße
auf ihren Großvater zu. Dazu kommt noch die Frage, ob es
Absicht war, dass Tönges im Februar bei ihrem Spaziergang am
Fluss so unvermittelt auf seine Schwester zu sprechen kam, nachdem er
all die Jahre kein Wort über sie verloren hatte. Wollte er Liv
damit etwas zu verstehen geben? Hatte sie nicht schon damals das
Gefühl einer vergeudeten Chance?
Anstelle des Enkels ist nun die Tochter regelmäßig zu
Besuch auf Bjarg, stets missmutig, wie es ihre Art ist. Fritzi ahnt,
dass der Junge bereits vor der Abreise seine Tante gebeten hat, ihn
zu vertreten, fürsorglich, wie er ist. Sie hat dann eine geraume
Weile gebraucht, um sich aufzuraffen.
Jetzt also wöchentlich Kaffeetrinken mit dem Mädchen und
nichts zu reden. Um das Wetter schert sie sich nicht, die Tochter,ein
Stadtmensch durch und durch, damit braucht Fritzi gar nicht erst
anzufangen. Und BrennivÃn lehnt sie strikt ab,Alkohol
insgesamt, wegen seiner destruktiven Auswirkungen auf menschliche
Zellen, wie sie sagt. Laster frei, wie sie lebt, wirkt sie in der Tat
jünger, als sie ist, glatt und modisch wie aus der Reklame.
»Brauchst du irgendetwas?«, fragt die Tochter ein ums
andere Mal aus der Stille heraus.
Fritzis Antwort ist ebenfalls immer dieselbe: »Nein danke,
ich habe hier doch alles.«
Am liebsten würde das Mädchen die ganze Zeit putzen und
kochen oder ihrer Mutter sonst wie zur Hand gehen, was Fritzi
versteht, denn es ist für sie beide unangenehm und öde, nur
dazusitzen und diese Fremdheit auszuhalten, die sich wie eine
Staubschicht auf die Atemwege legt, bis man das Gefühl hat,
dauernd husten und sich räuspern zu müssen, um bloß
wieder Luft zu bekommen. Doch obwohl ihre Hüfte ein wenig
Schonung vertragen könnte, will sie nicht, dass ihre Tochter für
sie putzt. Und Zäune reparieren zu können traut sie dem
Mädchen nicht zu. Ihr kleines Mädchen. Vom ersten Tag an
klüger als andere Kinder und dabei äußerst
ungeschickt in praktischen Dingen. Fritzi hat ihre einzige Tochter
immer schon als geborene Wissenschaftlerin gesehen, nie als Ehefrau
und Mutter, und lag damit richtig. Vierzehn Stunden am Tag und mehr
sucht die Promovierte nun für ein Unternehmen in ReykjavÃk,
das von der Regierung die Erlaubnis erhielt, medizinische Profile
aller Isländer zu speichern, nach schädlichen Genen. Ein
Projekt von internationalem Rang, wie die Zeitung schrieb, in letzter
Zeit soll es jedoch wirtschaftliche Probleme geben. Nur etwa zehn
Prozent der Bevölkerung weigern sich konsequent, ihre Daten
preiszugeben. Dass Fritzi zu dieser Minderheit gehört, hat das
Verhältnis zwischen ihnen nicht gerade gebessert. Doch da ist
ohnehin nichts mehr zu machen. Nicht, seit die Tochter sie für
den Tod des Erstgeborenen Einar verantwortlich macht.
Die Geschwister standen einander sehr nahe. Wie die Dinge sich
gleichen. Ob das wirklich in den Genen steckt? Sie würde diese
Frage gern ihrer Tochter stellen, wagt es aber nicht.
Das Mädchen erwähnt ein Telefonat mit dem Enkel. Er sei
ihr
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