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Wiedergaenger

Wiedergaenger

Titel: Wiedergaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexandra Kui
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Suche nach ihrem Großvater. Wenn er nicht
gefunden werden will, wäre dies ein Vorhaben aus purem Egoismus.
Sie will ihn ja nicht retten, wofür es sicherlich ohnehin zu
spät wäre, sollte ihm etwas zugestoßen sein. Sie will
ihn zurück, ihren Großvater und Lieblingsmenschen, ob es
ihm passt oder nicht. Und sollte das unmöglich sein, würde
sie wenigstens eine Erklärung verlangen.
    An der einstigen Zonengrenze verharrt Liv. Wiedersehen mit den
alten Holzschildern: »FKK-Strand Ende«, früher hätte
dort genauso gut stehen können: Ende der Welt. Es war
abenteuerlich, diesseits munteres Strandleben, sie im
Kindergartenalter mit Eimer, Schaufel und einem blauen
Plastikdampfer, drüben Grabesstille, keine Menschenseele weit
und breit, die Küste als Sperrgebiet mit Minenfeldern und
Selbstschussanlagen. Die Gefahr blieb natürlich unsichtbar,
insbesondere für ein Kind, der verlassene Strand friedlich und
still, ein Refugium für Möwen. Vor dem Zaun, der nicht mehr
war als eine zwischen niedrigen Pfosten gespannte Kette, spielten
Nackte Volleyball.
    Die andere Seite war um so vieles reizvoller. Und die Grenze
leicht zu überwinden. Ein einziges Mal hat sie das gewagt, an
einem besonders heißen Tag, als die Familie Engel sich in
voller Besetzung am Strand zusammengefunden hatte. Utz stand bloß
da und fuchtelte mit den Armen, schrie wie ein Wahnsinniger, sie
solle sofort zurückkommen. Tönges sprang über die
Kette in die DDR zu seiner Enkelin und fing sie ein, als die Grenzer
bereits im Anmarsch waren, die Gewehre im Anschlag. Zurück im
Westen ohrfeigte er sie, was sonst nicht seine Art war. »Mach
das nie wieder. Beim nächsten Mal hole ich dich nicht.«
    Genau das wird sie Tönges sagen, sobald sie ihn gefunden hat.
Ohne die Ohrfeige. Ihr Entschluss ist gefallen.
    Liv testet das Wasser mit den Zehenspitzen. Es ist kalt. Sie
weicht zurück und rennt los, ostwärts, längst nicht
mehr verbotenes, sondern verlorenes Land, rechts die bewaldete
Uferböschung, links das himmelblaue Meer, sie rennt, bis sie
nicht mehr kann, dann bleibt sie stehen, vornübergebeugt,
keuchend. Sie weiß, sie braucht für die kommenden Tage und
Wochen einen klaren Kopf und einen vernünftigen Plan. Und mehr
Kondition.
    Der junge Jón auf Bjarg entsprach nicht ihrer Vorstellung
eines Junggesellen zum Verlieben.Allein die Hände: grob mit
dicken bläulichen Adern, große vernarbte Knöchel,
wurstige Finger, obgleich ansonsten eher schlank. Wenn er am Abend
müde war, schielte er leicht, tagsüber fand sie ihn
ungelenk in seinen Bewegungen, ferner störte ein Ausdruck von
Ãœberforderung im Gesicht, vermutlich dem Umstand geschuldet, als
einziger von vier Söhnen der Familie das Mannesalter erreicht zu
haben. Fritzi kümmerte das nicht, denn im Gegensatz zu den
meisten der deutschen Frauen, die mit ihr ins Land kamen, war sie
ohnehin nicht auf der Suche nach einem Gefährten, sondern im
Gegenteil sogar strikt gegen die Ehe eingestellt.Auf keinen Fall
wollte sie das Leben ihrer Mutter führen, und eine Alternative
könnte es nur ohne Mann geben, davon war sie überzeugt.
    Â»Mit der Einstellung kommst du nicht weit. Was glaubst du,
wofür wir eingekauft worden sind? Die brauchen frisches Blut«,
hatte Gisela, ein Mädchen an Bord der Esja, prophezeit. Von
Anfang an war das Gerücht umgegangen, die Anwerbung lediger
ausländischer Frauen für die Landarbeit sei vornehmlich
dafür erdacht worden, schwer vermittelbare Jungbauern unter die
Haube zu kriegen.
    Dazu Gisela: »Natürlich wird uns nur der Ausschuss
zugeteilt. Die Hässlichen und die Verarmten, die Dummen und
solche, die von den ganz abgelegenen Einödhöfen stammen,
direkt am Polarkreis, wo es im Winter nie hell wird.«
    Â»Vielleicht sind wir ja der Ausschuss«, hatte Fritzis
Antwort gelautet.
    Ob geplant oder Zufall, es kam wirklich so, dass sich binnen eines
Jahres sehr viele der deutschen Fräuleins mit den Söhnen
ihrer Arbeitgeberfamilien zusammengetan hatten.Auch Gisela hatte auf
einem Einödhof »ihr Glück gefunden«. So ihre
eigenen Worte, schriftlich festgehalten in einer Vermählungskarte
an Fritzi. Bei dem Wort »Glück« hatte sie den
Bleistift besonders fest auf die Pappe gedrückt.
    Und Fritzi?Zwanzig Jahre nach Jóns Tod, in der Stille ihres
einst gemeinsamen Schlafzimmers,ist sie an einem verregneten

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