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Wiedergaenger

Wiedergaenger

Titel: Wiedergaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexandra Kui
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seltsam vorgekommen. Fritzi will wissen, wann das war, und erhält
eine unbefriedigende Antwort: nach Ostern irgendwann.
    Sie sind bei der zweiten Kanne Kaffee angelangt. In ihrer
Langeweile ertappt sie sich dabei, wie sie leise summt, unterbricht
sich, errötet und hofft, dass die Tochter nichts gehört
hat. Es wäre schön, könnte man wenigstens ein Lied
miteinander singen.
    Was Fritzis Schuld betrifft: An jenem Morgen im November haben die
Geschwister nicht die Erlaubnis, allein an den Strand zu gehen, um
Steine zu sammeln. Doch so sind Kinder: Verbiete ihnen etwas, und sie
tun es erst recht. Nein, sie sind nicht unter Aufsicht, Fritzi ist im
Stall mit einem kranken Kalb beschäftigt, doch sie haben die
klare Anweisung, im Haus zu bleiben. Denn die Wellen vor der Küste
sind Ungeheuer, schäumende Vorhut eines Sturmtiefs.
    Als das Meer sich den Jungen greift, das Mädchen dagegen
verschont, hört Fritzi ihren Schrei über das Brausen der
Brandung hinweg bis in den Kuhstall, und sie rennt sofort los, rennt
wie niemals zuvor, erreicht den Strand gleichzeitig mit Jón
nur Sekunden nach dem Unglück und dennoch eine Ewigkeit zu spät.
Von dem Jungen nichts zu sehen. Nur Berge und Schluchten aus Wasser.
Beide riskieren ihr Leben, Fritzi birgt seine Jacke, Jón einen
Schuh und ertrinkt beinahe. Im Advent schenkt die See ihnen auch noch
die Leiche, worauf die Schwiegereltern sagen, sie hätten großes
Glück gehabt.
    Die meisten geben dem Braunen die Schuld, sogar der Pfarrer hinter
vorgehaltener Hand.
    Nur die Tochter nicht.
    Fritzi sieht ihr an, dass sie ebenfalls an Einars Tod denkt, wie
bei jedem ihrer Besuche. »Du vermisst deinen Bruder noch
immer«, sagt sie.
    Â»Das verstehst du nicht.« Die Tochter hustet.
    Â»Wenn du wüsstest, wie gut.«
    Mehr wird zu diesem Thema nicht gesagt. Für ihre Verhältnisse
war das schon viel.
    Fritzi hat ja nicht nur Einar, sondern gleich drei Söhne
begraben, einen, den Vater des Enkels, als jungen Erwachsenen, der
andere wurde tot geboren. Wenn sie über tote Söhne reden
wollte, hätte sie viel zu tun, da gäb's kein anderes Thema
mehr.
    Was Fritzi ebenfalls aus der Zeitung weiß: Wenn heutzutage
Eltern ihre Kinder verlieren, werden sie psychologisch betreut, auch
die Geschwister in den Familien. Zudem gibt es Gruppen von
Betroffenen, die sich häufig treffen, um ihr Innerstes nach
außen zu kehren. Manche gehen mit ihren traurigen Geschichten
sogar ins Fernsehen und lassen ihre Tränen in jedermanns
Wohnzimmer fließen. Warum machen diese Leute so etwas? Fritzi
könnte das nicht, und sie bezweifelt, dass es einem danach
besser geht. Nur auf eine andere Weise schlecht.
    Liv verordnet sich Verdrängung durch Arbeit. Zu zermürbend
dieses Kopfzerbrechen wegen Tönges,Stunde um Stunde. Sie ist
Unternehmerin, hat Verantwortung zu tragen.Acht Festangestellte und
zehn freie Mitarbeiter zählen darauf, dass sie ihren Job
vernünftig macht, neue Aufträge heranschafft, damit die
Gehälter konstant steigen und pünktlich überwiesen
werden können. Allein diesen Monat hat sie an diversen
Ausschreibungen für Großprojekte teilgenommen. Mit der
Sprengung zweier Hochhäuser im Ruhrgebiet sowie mehrerer
Autobahnbrücken entlang der A 1 käme bis zum Ende des
kommenden Jahres eine anständige Summe Geld in die Kasse, falls
sie den Zuschlag erhielte. Dazu das laufende Geschäft:
Untergrundlockerungen, Bohrungen zur Kampfmittelräumung,
Sprengreinigungen in Kraftwerkskesseln bei laufendem Betrieb –
zu tun ist augenblicklich mehr als genug. Und demnächst soll
endlich ein repräsentativer Firmensitz angemietet werden,
vielleicht in den Mediadocks, gleich neben ihrer Wohnung. Sie hat die
barackenähnlichen Nachkriegsbauten im Gewerbegebiet von
Lübeck-Siems schon lange satt.
    Drei Tage läuft alles gut, von schlechter Laune abgesehen.
Sie sitzt in ihrem schmucklosen weißgetünchten Büro,
vertieft in Bauskizzen, Geländegutachten und Kalkulationen. Liv
mag Zahlen. Nicht im metaphysischen Sinn wie diese Leute, die alles
überhöhen müssen und überall Zusammenhänge
sehen: Musik, Philosophie, Mathematik – für diese Spinner
ist alles eins, das ganze Universum, Vergangenheit, Gegenwart und
Zukunft, und irgendwo in diesem Chaos vermuten sie Gott oder
irgendeine andere Instanz mit der Fähigkeit, den Überblick
zu behalten. Dieses

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