Wiedergaenger
Höchste Zeit,
einen Strich zu ziehen: »Alright, Ragnar. Let's put an end to
it.«
Drei Uhr nachmittags. Möwengeschrei. Liv hat im Hauptpostamt
Telefonbücher eingesehen, ein hoffnungsloses Unterfangen, da
sämtliche Teilnehmer mangels Familiennamen alphabetisch nach
ihren Vornamen aufgelistet sind. Ortsvorwahlen existieren nicht. Wie
zu erwarten war, gibt es zahlreiche Ingas auf dieser Insel, darunter
keine Inga Engel. Zu viele Fremde für irgendwelche gestammelten
Anrufe auf gut Glück.
Was also tun? Mittagessen in einer Sushi-Bar über einem
Buchladen, anschließend ein Erkundungsspaziergang durch die
hügeligen Straßen des Zentrums. Die frische Luft tut ihr
gut, obwohl der Wind immer noch kalt ist, in Böen nadelspitz.
Sie findet, ReykjavÃk ist ein seltsamer Ort, kleinstädtisch
für eine Metropole mit internationalem Hip-and-Cool-Image, hier
und da der großspurige Versuch, mit gläsernen
Hochhausfassaden Weltläufigkeit zu demonstrieren, dazwischen
brachliegende Grundstücke, Mietskasernen, aber auch hübsche,
bunt gestrichene Holzhäuser, dem Skandinavienbild der Deutschen
schmeichelnd.Auf den Straßen, in unzähligen Cafes und
Kneipen allerhand junge Leute in schrägen, luftigen Klamotten,
als lägen die Temperaturen nicht deutlich unter zehn Grad. Was
ihr gefällt:An fast jeder Straßenkreuzung öffnet sich
der Blick aufs Meer. Was ihr normalerweise nicht aufgefallen wäre:Auf
den wenigen Bäumen tummeln sich Scharen von Spatzen.
Viertel nach drei nachmittags. Irgendetwas zwingt sie dazu,
ständig auf die Armbanduhr zu sehen, als wolle sie sich
vergewissern, dass die Zeit noch voranschreitet und demnach
irgendwann in den nächsten Stunden die Sonne untergehen wird.
Diese Lichtflut verwirrt sie.
Wie geht es weiter? Liv nähert sich der Hallgrimskirkja. Das
protestantische Gotteshaus im Ausmaß einer Kathedrale oder
eines Doms, errichtet auf einem Hügel mit Weitblick über
Bucht und Berge, überragt alle anderen Gebäude der
Hauptstadt. Ihr Hotel liegt genau gegenüber. Sie ist sehr müde,
sehnt sich nach ihrem Bett, Gesprächspartnern, die nicht
abergläubisch sind, einem Verdunklungsrollo und der Wahrheit.
Drei Uhr fünfzehn. Immer noch? Liv starrt auf das Zifferblatt
an ihrem Handgelenk, tippt mit dem Zeigefinger gegen das Glas. Sie
hat mindestens zwei Stunden geschlafen, vielleicht doppelt so lange.
Der Sekundenzeiger bewegt sich nicht. Stehengeblieben. Das Gleiche
gilt anscheinend für die Sonne, wie sie beim Zurückziehen
der Gardine feststellt: von Dämmerung nichts zu ahnen.
Was bringt sie dazu, sich anzuziehen – Jeans, schwarzer
Rollkragenpulli, Wintermantel –und das warme Hotelzimmer zu
verlassen, um die Kirche zu besichtigen? Das hat sie noch nie getan,
nicht einmal in Rom auf Hochzeitsreise mit Janko, der seinerseits
keine Kapelle ausließ. Nicht zu leugnen: Da ist eine gewisse
Anziehung, wahrscheinlich schiere Langeweile, denn was sonst soll sie
tun in der fremden Stadt? Der nächste Termin mit einem Beamten
vom Einwohnermeldeamt ist erst für den kommenden Morgen
angesetzt. Sie könnte natürlich auch einen weiteren Abend
mit Geir verbringen, er hat sie per SMS in irgendeinen Club
eingeladen. Oder weiterschlafen, müde genug ist sie noch immer.
Oder arbeiten, das Notebook hat sie dabei. Oder Aaron anrufen.
Doch sie tut nichts dergleichen.
Sie geht in die Kirche.
Nach ihrer Einschätzung das einzige Bauwerk auf der gesamten
Insel, welches die Mühe wert wäre, es in die Luft zu
jagen.Auf dem menschenleeren Vorplatz verharrt Liv. Der Wind,jetzt
wieder eisig, zerrt an ihrem Haar. Zur Linken eine Statue, ein
Krieger mit Axt und Kettenhemd, laut Inschrift der Entdecker und
Nationalheld Leifur EirÃksson. In seinem Rücken ragt der
Glockenturm, einem gewaltigen Stalagmiten gleich, gen Himmel. Nicht
nur die Form, auch die weißlich graue Farbe der Fassade aus
schlanken Betonstiften erinnert an die Tropfsteingebilde in Höhlen.
Von weitem war Liv die Hallgrimskirche eher wie eine Schwester der
Tafelberge vorgekommen, die ReykjavÃk nach Westen hin
abschirmen: monumental, karg, widerstandsfähig. Wie die
isländische Landschaft überhaupt, soweit sie das nach einem
Tag Aufenthalt beurteilen kann.
Drinnen Gotik: hohe Wände mit großen schmalen Fenstern
– erstaunlicherweise normal verglast –, geometrische
Formen statt schnörkeliger
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