Wiedergaenger
Verzierungen, viel Tageslicht. Ein
System aus Strebepfeilern und Bögen betont die Vertikale und
sorgt für eine intakte Statik. Liv kramt die Sonnenbrille aus
der Jackentasche und setzt sie auf.Außer ihr sind noch ein
Dutzend Touristen in bunten Windjacken anwesend. Keine Gläubigen
weit und breit.
Was tut sie hier?
Bevor Liv dazu kommt, zu ihrer Zerstreuung einen Abrissplan für
den Sakralbau zu entwerfen, reißt der Klang der Orgel sie aus
ihren Gedanken. Sie setzt sich auf eine der Bänke und lauscht,
zunächst beifällig, weil die Ablenkung von der eigenen
müßigen Lage ihr höchstwillkommen ist,dann zunehmend
verstört. Nicht, dass der Klang der Orgel ungewöhnlich
wäre, das Instrument tönt fein gestimmt und voll. Seltsam
ist nur, was gespielt wird: eine Variation über Chopins
Trauermarsch in Verbindung mit dem Metallica-Song »Nothing else
matters« und Fragmenten der d-Moll-Toccata von Bach. Dazwischen
freie Improvisation, düster und dissonant. Moderne Harmonien
zersetzen die barocken Passagen. Auch die anderen Kirchenbesucher
wirken etwas irritiert.
Liv sieht über den Altar hinweg aus dem Fenster. Wolkenloser
Himmel, ein Blau wie aus Samt.Allmählich lässt die Sonne
von der Stadt ab. Liv schließt die Augen, und die Musik fließt
durch sie hindurch, pulsiert, vereinnahmt ihren Herzschlag. Eine
angenehme Art, sich zu verlieren. Zumindest anfangs. Je länger
das Lied andauert,desto intensiver wird das Gefühl zu ertrinken.
Die letzten Takte: eine Hinrichtung. Explosionen in Weiß. Jedes
Register gezogen, alle Tasten im Spiel. Es ist gespenstisch.
Die Stille nach dem Schlussakkord breitet sich aus wie die
Staubwolke im Gefolge einer Gebäudesprengung. Sekunden der
Benommenheit, dann Applaus, zwei Japanerinnen klatschen wie
elektrisiert, bevor sie zum Spieltisch stürmen, der mitten im
Kirchenschiff platziert ist. Liv, beinahe überrascht über
die eigene Unversehrtheit, steht auf, wischt einen Anflug von
Schwindel beiseite und geht langsam in Richtung Ausgang, vorbei am
Tastenwerk, wo die Japanerinnen gerade den Organisten um Autogramme
bitten.Als eine der Frauen Liv überaus freundlich und dabei doch
zwingend auffordert, Fotos zu schießen, tut sie ihnen den
Gefallen, obwohl die Situation ihr lästig ist. Andererseits: Sie
hat ja Zeit.
Die Japanerinnen nehmen den Organisten in die Mitte. Durch den
Sucher der Kamera kommt es Liv vor, als sehe sie ihn nicht zum ersten
Mal. Ein junges Gesicht, dunkel, sie überlegt, ob er berühmt
ist, ein Rockstar vielleicht, deshalb der Ãœberschwang der
Touristinnen.
Wie gewünscht, knipst Liv etliche Male und gibt danach die
Kamera zurück. Mit beiden Händen, was angeblich in Japan
als besonders höflich gilt, wie sie irgendwann irgendwo gelesen
hat. Während man einander in Grund und Boden lächelt und
dabei mehrfach nickt, bemerkt Liv, dass sie immer noch die
Sonnenbrille trägt. Sie nimmt sie ab. So, befreit von
Fotoapparat und Brillenglas, vollzieht sich der erste direkte
Augenkontakt mit dem Organisten. Ein langer Blickwechsel, für
Fremde geradezu unangemessen, bis die ungeheure Energiedichte
zwischen ihnen Liv zuerst wegschauen lässt. Sofort, als hätte
jemand einen Schalter betätigt, ist dieselbe Kraft wieder
präsent, die Liv bereits bei seinem Orgelspiel erfasst hat. Eine
Eingebung:Wenn er an der Kirchenorgel sitzt, befindet er sich an
demselben Ort wie sie beim Singen.
»So etwas Krankes habe ich noch nie gehört«, sagt
sie auf Englisch zu ihm, eine kleine heimliche Hommage an Janko und
daran, wie er die Welt sieht.
Ihr Lächeln, ursprünglich für die Asiatinnen
bestimmt, klammert sich auf unnatürliche Weise an den Lippen
fest.
»Für die Beerdigung eines Freundes. Er wollte es so.«
»Tja, wer die Kapelle bezahlt, bestimmt die Musik«,
murmelt Liv, diesmal auf Deutsch.
Der Organist lacht und wechselt ebenfalls die Sprache: »Du
kommst aus Deutschland?«
Sie nickt, plötzlich blockiert, obgleich oder gerade weil sie
sich durchaus wünscht, das Gespräch würde irgendwie
weitergehen.Oder überhaupt erst richtig beginnen. Warum? Weil
die Reibung seines Lachens und der Stimme sie in ähnlicher Weise
vereinnahmt wie zuvor das Orgelspiel, ein Effekt, dem sie sich nicht
entziehen kann und will. Weil sie nun nicht nur Energie, sondern auch
Nähe spürt. Und weil es ihm genauso geht, das lässt
sein Blick
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