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Wiedergaenger

Wiedergaenger

Titel: Wiedergaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexandra Kui
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Mund scheint ihn beim Sprechen nicht zu
behindern.
    Liv hat eine Frage fertig gebastelt: »Wie kamen die Isländer
auf die Idee, ausgerechnet Deutsche anzuwerben? Waren die hier nicht
ziemlich unbeliebt nach dem Krieg?«
    Â»Nein. Jedenfalls nicht so sehr wie in anderen Teilen der
Welt.«
    Â»Wieso nicht?«
    Â»Island gehörte zwar zu den Alliierten, war aber vom
Kriegsgeschehen nicht direkt betroffen, und da wir nie eine Armee
hatten, gab es auch keine isländischen Soldaten, die in Särgen
zurückkamen. Das macht viel aus.«
    Liv nimmt kurz die Sonnenbrille ab, um sich die Augen zu reiben.
Es ist sehr hell in dem kleinen Büro in einem gläsernen
Hochhaus an der Seebraut, der Küstenstraße am Sund von
Reykjavík. Die Helligkeit staut sich nicht nur im Gebäude,
sie unterwirft die Stadt, ergreift Besitz von jedem Winkel. Ein Licht
wie ein Kampfschrei.
    Ragnar betrachtet sie. »Du weißt, dass Island 1944,
also mitten im Krieg, seine Unabhängigkeit von Dänemark
deklarierte?«
    Sie verneint.
    Â»Dänemark war ein besetztes Land, und Island stand auf
der Seite der Sieger, also ...«
    Liv, gelangweilt, aber zu höflich, dem Mann ins Wort zu
fallen, unterbricht ihn auf indirekte Weise, indem sie ihren Blick
abwechselnd auf ihre Knie und auf einen Punkt an der Zimmerdecke
richtet.
    Er versteht. »Das interessiert dich nicht wirklich, oder?«
    Keine Antwort.
    Â»Okay, Liv, warum bist du hier? Am Telefon neulich sagtest
du, die deutschen Einwanderinnen nach dem Krieg interessieren dich.
Bist du Historikerin?«
    Liv schüttelt den Kopf, und es fühlt sich an, als würde
jemand mit einem Löffel großflächig etwas von der
Schädeldecke abkratzen. Von innen. Sie hätte sich nicht von
diesem Geir mit in die Stadt nehmen lassen sollen. Auch der Besuch
der Hotelbar war eine lausige Idee.
    Â»Ich bin .« Wieder muss sie auf der Suche nach dem
englischen Begriff pausieren. »Granddaughter – Enkelin.«
    Â»Oh . eine private Sache also.«
    Â»Ja. Es ist sehr wichtig für mich.« Sie hat Mühe,
offen zu sein, die nötige Vertraulichkeit herzustellen, aber es
geht nicht anders. Schließlich will sie etwas von ihm. In
knappen Worten umreißt sie den Sachverhalt und zeigt Ragnar
sowohl das alte Klassenfoto aus Fehmarn als auch einige der Skizzen
ihres Großvaters, damit er sich ein Bild von Inga machen kann.
Ob-schon er nach eigenem Bekunden viele der deutschen Frauen kennt –
oder kannte,denn die meisten sind inzwischen verstorben –, sagt
ihm das Gesicht auf Anhieb nichts.
    Â»Inga könnte natürlich auch ganz anders aussehen«,
erklärt Liv.
    Â»Oder bereits tot sein«, ergänzt er und fügt
nach kurzer Überlegung hinzu: »Oder einen isländischen
Namen angenommen haben.«
    Â»Wie geht das denn?«
    Â»Nun ja, in Island gibt es keine Familiennamen. Jeder trägt
einen Vornamen und den Namen des eigenen Vaters, in Ausnahmefällen
auch der Mutter, verbunden mit der Endung -son für Sohn oder
-dóttir für Tochter. Oft werden zu Ehren der Großeltern
in einem Clan immer wieder dieselben Namen verwendet: Ich heiße
zum Beispiel Ragnar Kjartansson und habe meinen Sohn nach seinem
Großvater, meinem Vater, Kjartan genannt.«
    Â»Der heißt dann Kjartan Ragnarsson?«
    Â»Exakt. So geht es oft über Generationen. Einwanderer,
die mit einem traditionellen Familiennamen ins Land kommen, behalten
diesen in der Regel. Manche der deutschen Frauen haben aber auch den
Namen ihres Vaters oder, wenn sie einen Isländer geheiratet
haben, den ihres Schwiegervaters angenommen – mit der Endung
-dóttir, versteht sich.«
    Â»Und warum?«, fragt Liv, weil ihr beim besten Willen
keine geistreichere Frage einfällt.
    Â»Sie wollten mit ihrem alten Leben abschließen. Wer
auswandert, hat ja meistens ernsthafte Gründe. Seine Heimat
verlässt man doch nicht einfach so. Etliche der Einwanderinnen
beantragten schon nach kurzer Zeit die isländische
Staatsbürgerschaft, die haben in Gesprächen mit mir nie
gern über ihre Kindheit und Jugend in der alten Heimat geredet.
Sie kamen her, lernten Isländisch, heirateten und integrierten
sich in jeder Hinsicht vorbildlich, und zwar in einem rasanten
Tempo.«
    Â»Integration ist ja schön und gut.Aber warum wollten
sie nicht von früher reden?«
    Er hebt beide Hände. »Keine Ahnung. Wer weiß,

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