Wiedergaenger
äußerst wärmend.
Zumindest, wenn man daheim auf dem Sofa sitzt. Hier draußen
bringt sie nicht viel. Zumal es ihr vorkommt,als würde der Frost
mit jeder Minute strenger werden, ein regelrechter Temperatursturz.
Ihr blutbefleckter Schal ist hart gefroren, und Liv merkt, wie sich
an ihren Wimpern Eisklümpchen bilden.
Nach der eher rauschhaften Panik von vorhin wird sie nun von einer
rohen Angst befallen, die sie alles überdeutlich wahrnehmen
lässt: das helle Abendlicht über dem Nebel, den sauberen
Geruch der Luft – fast wie frische Wäsche –, den
Duft von Treibholz und wieder die Stimme des Eises, ein Murmeln
jetzt. Eindrücke von ergreifender Schönheit. Die Angst
zerkratzt ihr trotzdem das Gesicht, packt ihren Kehlkopf und presst
ihn zusammen. Dann tritt sie ihr in den Unterleib. Liv krümmt
sich und zieht ernsthaft die Möglichkeit in Betracht, zu
kapitulieren. Jeder Atemzug, jedes Blinzeln fühlt sich an wie
etwas Krankes, Widernatürliches, unfassbar Schweres. Was für
eine Erleichterung es wäre, sich jetzt hinzulegen. Sie hat sogar
eine Decke. Was zu viel ist, ist zu viel. Sie ist derartige
Belastungen nicht gewöhnt, sie muss sich einfach ausruhen. Liv
geht langsamer, schwenkt in Gedanken bereits die weiße Fahne.
Weil sie weiß, dass sie nie wieder aufstehen würde,
schließt sie mit sich selbst einen Kompromiss: Stehen bleiben
ja, hinlegen nein. Wenn sie wenigstens etwas weiter vorausblicken
könnte.
Sie verschnauft in gekrümmter Haltung, die Arme vor der Brust
verschränkt. Ein Verdacht, der sie schon eine Weile plagt, wird
zur Gewissheit: Nicht die Wut, sondern die Angst ist ihr größter
Feind. Sie wird beherrscht davon:Angst, sich irgendjemandem ganz
hinzugeben, als Mutter, Geliebte, Tochter, und sich dabei zu
verlieren. Mit der Konfrontation hier draußen scheint sich ihr
Schicksal zu erfüllen. Tönges' Verschwinden und ihre Reise
nach Island, ja sogar Dinge, die davor geschahen, wie Aarons Einzug
bei ihr und der Spaziergang im Februar mit ihrem Großvater am
Fluss, jede einzelne Fügung kommt ihr plötzlich vor wie von
einer immanenten Logik gesteuert – mit dem Ziel, sich selbst
endlich auf die Schliche zu kommen.
Genau das ist es.
Da hat sie ihre heiß ersehnte Spiritualität: Keine
vierundzwanzig Stunden in freier Natur, und schon dreht sie so sehr
am Rad,dass sie es mit jedem dieser einheimischen Elfenspinner
aufnehmen könnte.
»Ich kann das«, sagt Liv zu ihrer Angst, ohne zu
kapieren, was genau sie damit meint. Was kann sie? Leben? Weiteratmen
und vorwärtsgehen? Tönges finden und neu anfangen?
Für den Anfang probiert sie es mit Gehen. Weil die Kälte
sie zunehmend schwächt und es ihr obendrein vorkommt, als würde
die gesamte Landschaft, die sie nicht sieht, das Meer, die Berge, der
Himmel, sich köstlich über sie amüsieren, fängt
sie an zu fluchen, umso mehr, je schwächer ihre Beine werden.
Das tut ihr gut. Besonders einfallsreich ist sie nicht. »Scheiße.
Scheiße. Scheiße.«
Sie muss daran denken, wie ihr Großvater bei der Arbeit
geflucht hat, unentwegt, richtig üble Wörter, und wie sehr
sie das als Kind beeindruckt hat.Am besten gefielen ihr die
Beleidigungen für die Arbeiter: Jauchemaul. Walarsch.
Fellfresse. Und viele mehr, die ihr heute nicht mehr einfallen. Sie
selbst hat er oft Zwergpygmäe genannt. Jedenfalls so lange, bis
sie in die Pubertät kam und größer wurde als er. Sie
muss Tönges einfach finden.
Als Liv ihre Glieder vor Kälte kaum noch spürt, ändert
sich der Untergrund, das Eis wird riffelig. Gefrorene Wellen. Wenig
später steht sie auf festem Boden, ebenso schneebedeckt zwar,
aber sie ist sich sicher: Sie hat den Strand erreicht, oder das Ufer.
Fragt sich bloß, wo die Straße ist.
Leider endet der schmale Strandabschnitt an einem Abhang:
Steilküste. Die allerdings nicht hoch sein kann, schließlich
ist sie von dort oben ja gekommen, und wenn der Fall sehr tief
gewesen wäre, könnte sie kaum derartig unversehrt sein und
der Jeep ebenso wenig.
Liv beschließt zu klettern. Die Böschung führt
steil, aber nicht senkrecht bergan. Schwierigkeiten bereitet ihr der
Schnee, weil er immer wieder nachrutscht: ein weicher, nahezu
pudriger Neuschnee, der fällt wie Sand. Sie erkennt das Gefühl
wieder: Sie hat davon geträumt – und genau wie in ihrem
Traum
Weitere Kostenlose Bücher