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Wiedergaenger

Wiedergaenger

Titel: Wiedergaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexandra Kui
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sieht: Farben.Als sie um eine Kurve fährt,
plötzlich Gegenlicht, die Sonne steht tief, färbt den
Tunnel aus Schneetreiben rosa, lavendelfarben, ocker, rot. Himmel,
Wolken und Meer – alles eins, alles bunt, trotz des Schnees,
der doch weiß sein sollte, ein verrücktes polares
Farbinferno. Die Erde ist rund und dreht sich, das ist ja nichts
Neues, aber normalerweise merkt man es nicht so stark.
    Ihr Magen sackt durch.
    Die Räder greifen nicht.
    Dann ein Schlag, und die Piste wird noch holpriger als zuvor, die
Lenkung schwergängig. Sie muss gegen lenken. Gleich.
    Jetzt ... ist sie ... nur müde, sonst nichts.Zu müde,
die Arme bleischwer, fast schon gelähmt. Einmal kurz die Augen
zumachen, für eine gestohlene Sekunde, dann wird es sicher
besser. Ist ja sowieso kein Verkehr hier draußen.
    Wieder hebt sich der Magen, und draußen knallt es laut.
Woher auf einmal dieser Lärm?
    Ist doch gar keine Sprengung für heute angesetzt.
    Liv wird wach, weil sie friert. Dass ihre Stirn auf dem Lenkrad
ruht und penetrant schmerzt, während beide Arme seitlich
hinunter baumeln wie die Glieder einer Puppe, hätte sie
sicherlich nicht aus dem Tiefschlaf gerissen. Die Kälte schon.
Minusgrade, definitiv. Es dauert eine Weile, bis sie wahrnimmt, wo
sie sich befindet, und als sie es schließlich begreift, wird
ihr vor Schreck schlagartig heiß: Sie hat tatsächlich
einen Unfall gebaut, mit Rúnars Jeep, einem viel zu sicheren,
viel zu neuen und viel zu teuren Gefährt, um es zu Schrott zu
fahren. Ist sie eingeschlafen oder durch den Unfall bewusstlos
geworden? Sie erinnert sich an die Müdigkeit, die sie zuvor
befallen hat. Wann war das? Der Blick auf die Uhr ist
niederschmetternd: schon nach neun. Gegen zehn wollte sie sich bei
Rúnar melden. Wie soll sie ihm das bloß erklären?
Weitaus wichtiger als die Frage, ob sie selbst in Ordnung ist,
erscheint es Liv, herauszufinden, welchen Schaden der Geländewagen
davongetragen hat. Sie dreht den Zündschlüssel:keinerlei
Reaktion, nicht das geringste Lebenszeichen vom Motor, die Anzeigen
auf dem Armaturenbrett schwarz.»Scheiße.«
    Wo, zum Teufel, steckt sie überhaupt? Ausblick Fehlanzeige,
die Frontscheibe ist mit einer Schneeschicht bedeckt, der
Scheibenwischer funktioniert logischerweise ebenso wenig wie der
Rest, die Seitenfenster sind beschlagen oder sogar gefroren, genau
lässt sich das nicht ausmachen. In der Kabine diffuses
Halbdunkel, indem ihr Atem weiße Wölkchen bildet. Eine
gewisse Komik hat das alles schon. Liv lacht auf, verstummt aber
sofort, als sie die eigene Stimme in dem stillen Raum vernimmt. Sie
klingt, als hätte sie den Verstand verloren. Wenn sie nicht
aufpasst, gibt Island ihr den Rest.
    Â»Große Scheiße.«
    Liv befühlt vorsichtig ihren Körper, findet keinerlei
Verletzungen, bis auf eine Beule am Kopf. Davon ermutigt, fasst sie
sich ein Herz, stößt die Fahrertür auf, klettert ins
Freie und ist sofort erleichtert: Der Wagen sieht zumindest äußerlich
unversehrt aus. Kein Blechschaden also. Den Motor wird man schon
reparieren können, womöglich ist nur die Batterie erfroren.
Und falls die Reparatur doch aufwändiger würde und damit
teurer, müsste sie eben ihre Versicherung in Deutschland
bemühen. Sie fragt sich gerade, ob die Haftpflicht zuständig
wäre, als ein Krachen sie aus ihren Gedanken reißt,
ähnlich wie das Splittern von Holz, nur sehr viel lauter. Es
kommt aus dem verschneiten Boden, tief unter ihr. Der genau genommen
kein Boden ist, kein fester zumindest, sondern ein schwankendes
Etwas, unter dem Schnee dunkel und äußerst lebendig. Liv
begreift – und erstarrt. Sie ist nicht nur von der Piste
abgekommen, was schon schlimm genug wäre. Sie steht auf Eis.
    Â»Hilfe.« Sie muss schon wieder lachen,die reine
Hysterie, klettert zurück hinter das Steuer, um erneut den
Schlüssel im Zündschloss zu drehen. Wieder vergebens.
    Â»Hilfe.« Liv ruft nicht, sie spricht das Wort aus wie
eine Beschwörungsformel. Die Antwort des Eises: ein tiefes
Stöhnen und erneutes Krachen, länger anhaltend und noch
lauter als das vorangegangene. Sie muss hier weg.Überstürzt
rafft sie ihre Sachen zusammen,den Rucksack mit den Bildern von Inga
und Tönges, den Parka, ihren Schal, steigt aus und rennt einfach
los, rennt so schnell sie kann. Unter ihr rumort der gefrorene Grund,
was sie abermals

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