Wiedergaenger
kämpft sie auf stoische Weise dagegen an. Fallen und
aufstehen. Immerfort. Abrutschen, sich fangen und den Aufstieg von
vorn beginnen. Manchmal versinkt sie bis zum Bauch.Einmal stürzt
sie so unglücklich, dass sie kopfüber in einer tiefen
Schneewehe landet, und da sie dabei aufschreit, schluckt sie Schnee,
ihr ganzer Mund ist voll davon. Sie kann nicht atmen. Das war es
dann,denkt sie, und davon wird sie wütend. Ein willkommener
Beistand: Endlich, endlich kehrt die Wut zurück, und zwar um ihr
den feigen Arsch zu retten. Sie strampelt ohne Sinn und Verstand,
dafür jedoch mit voller Kraft um ihr aus dem Ruder gelaufenes
Leben.
Und tatsächlich: Liv gelingt es, sich zu befreien, nach zwei
weiteren vergeblichen Anläufen überwindet sie auch die
Böschung und findet sich auf der Straße wieder, wo sie
sich vor Erleichterung ein paar Tränen gestattet, die auf ihren
Wangen sofort gefrieren. Die ersten Schritte legt sie im Bewusstsein
einer Geretteten zurück. Schade nur, dass kein Auto kommt. Lange
nicht. Sie schaut auf die Uhr: erst Viertel nach zehn. Unfassbar. In
der letzten Stunde ist sie ganz bestimmt um zehn Jahre gealtert.
Nach einer weiteren halben Stunde, einer eisigen Ewigkeit also,
wird es merklich wärmer, was nichts daran ändert, dass Liv
weiterhin friert. Der teure Parka: kaum mehr als eine Attrappe
angesichts dieser Zustände – trotz Webpelz und angeblicher
Kriegsfliegertauglichkeit. Ihre Zähne schlagen unkontrolliert
aufeinander, so bibbert sie. Das ist ihr zuletzt als Kind passiert,
auf einer Abrissbaustelle. Sie hat einen metallischen Geschmack im
Mund.
Es fängt wieder an zu schneien. Wind kommt auf, jault um ihre
Kapuze und peitscht Liv die grobkörnigen Kristalle direkt ins
Gesicht, woraufhin die Haut auf den Wangen schmerzt wie bei einem
Sonnenbrand. Als die Böen stärker werden, vertreiben sie
den Dunst, die Sicht verbessert sich aber kaum, da nun zusätzlich
zu dem ergiebigen Niederschlag auch noch Treibschnee über die
Straße fegt. Ab und zu erhascht Liv einen kurzen Blick auf die
Eisfläche oder auf steile Hänge, bizarre Felsengesichter
mit schwarzen Augenhöhlen und riesigen Nasen, und sie beginnt
sich Gedanken über Lawinengefahr zu machen. Die Hoffnung auf
einen Wagen, der sie mitnehmen könnte, hat sie aufgegeben. Kein
Durchkommen, vermutlich ist die Route sogar gesperrt worden. Denn die
Schneedecke auf der Schotterpiste geht ihr mittlerweile bis zu den
Waden, einzelne Wehen, in die sie trotz aller Achtsamkeit ständig
gerät, lassen sie bis zu den Hüften versinken. Und der
Räumdienst wird sicher nicht vor dem nächsten Morgen
ausrücken. Bis dahin könnte sie längst hinüber
sein. Sie macht sich nichts vor, ihre Lage ist mehr als verzweifelt.
Als Kind hat Liv ein Buch gelesen, in dem ein Trapper in einen
Blizzardgeriet. Der hat nur überlebt, weil er sich im Schnee
eingrub. Die Kunst dabei, außer dass es ein gewisses Geschick
braucht, eine stabile Höhle zu schaufeln: nicht einzuschlafen.
Das wäre im Augenblick zu viel verlangt. Die entsetzliche
Müdigkeit von vorhin hat sie eingeholt, sie hat sogar beim Gehen
Mühe, sich wach zu halten. Sicherlich wäre es sinnvoll
gewesen, auf die Festigkeit des Eises zu vertrauen und im Auto
auszuharren, bis Hilfe kommt. Hinterher ist man immer schlauer.
Ganz allmählich wird es dunkel, doch eine Resthelligkeit
bleibt, ein fahles, totes Licht. Genug, um die eigenen Beine zu
erkennen mit den vom Schnee durchnässten Hosen, den erschöpften
Gang, eher ein Straucheln. Manche Windstöße bringen sie zu
Fall. Wenigstens stößt sie sich nichts.Als sie irgendwann
nicht wieder hochkommt,weil eine Sturmböe die nächste jagt,
kriecht sie auf allen vieren weiter, was zum Heulen ist, und das tut
sie auch. Dabei ruft sie sich einige ihrer großen
Sprengprojekte ins Gedächtnis und geht, so detailliert wie nur
irgend möglich, die kompletten Abrissplanungen noch einmal
durch. Die beste Erinnerung: ein Hochhaus im Hamburger Zentrum, zwölf
Stockwerke, enge Bebauung, in der Nähe historische Bauten, auf
die Rücksicht genommen werden musste, Nachbarn, die gegen die
Sprengung klagten. Zwei Unternehmen hatten vor ihr das Handtuch
geschmissen, sie blieb dran, und jeder Tag lief wie am Schnürchen.
Damit hat sie sich in der Szene überhaupt erst einen Namen
gemacht. Und das bestimmt nicht, um jetzt hier im
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