Wiedergaenger
beschleunigen lässt, denn Eis ist nicht ihr
Element, sie hat kein Gespür dafür, wann es bricht, und von
ihm verschlungen zu werden, das ist der größte Alptraum,
den sie sich vorstellen kann. Nur nicht stehen bleiben.
Livs Füße berühren kaum mehr den Boden, bis sie
sich irgendwie verheddern und sie lang hinschlägt, eine Weile
bäuchlings schlittert und schließlich regungslos
liegenbleibt, darauf gefasst, innerhalb der nächsten Sekunden
durch einen Riss in die Tiefe gezogen zu werden.Aber nichts
dergleichen geschieht. Das Eis arbeitet nicht weiter, sie hört
nichts bis auf das Pfeifen in den Ohren und das Hämmern ihres
eigenen Herzens, das wie besessen pumpt.Die Lunge brennt. Sie hat
sich im Fallen die Unterlippe blutig gebissen,Arme und Beine zittern
und tun weh, als hätte jemand sie zerlegt und falsch wieder
zusammengebaut. Trotzdem die Ahnung: Der Sturz war eine glückliche
Fügung.Ansonsten wäre ihr wohl noch länger entgangen,
dass sie keinen Plan hat, in welche Richtung sie sich überhaupt
wenden soll.
Langsam kniet Liv sich hin, steht auf, klopft den Schnee von der
Kleidung, wischt mit dem Schal das Blut von Lippen und Kinn und
schaut sich um. Sicht gleich null bei konstanter Helligkeit, wie
Kunstlicht hinter Milchglasscheiben.Als könne man sich den Kopf
daran einhauen. Gefrorener Nebel oder Wolken, sie weiß es
nicht. Die Einsicht, orientierungslos zu sein, trifft sie wie eine
Ohrfeige. Keine Chance, das Ufer auszumachen, sie ist ja nicht einmal
in der Lage, zu erfassen, ob die Eisfläche zu den Ausläufern
eines Fjordes gehört oder zu einem See, was angenehmer wäre,
dann bestünde wenigstens nicht die Gefahr, ins offene Meer zu
laufen. Waren auf der Karte nicht auch Seen eingezeichnet? Leider hat
Liv nicht die geringste Vorstellung davon, wo genau sie sich befand,
als der Unfall passierte. Was für eine verzweifelte Lage, selbst
verschuldet. Wie konnte ihr das nur passieren? Und welche
Möglichkeiten bleiben ihr jetzt noch, heil aus der Sache
herauszukommen?
Liv erwägt zwei Möglichkeiten: Sie könnte ihre
Spuren zurück zum Auto verfolgen und dort die Hupe betätigen.
Das dürfte funktionieren, sogar wenn der Motor tot ist. Jemand
muss sie hören, ein Autofahrer oder ein Bauer auf einem
Einödhof. Oder sie versucht, auf eigene Faust wieder festen
Boden unter den Füßen zu gewinnen, indem sie sich auf ihr
Gespür verlässt.Aber welches Gespür? Beide Varianten
sind wenig überzeugend. Nicht lange, nachdem sie sich für
die zweite entschieden hat, tauchen erst ihre eigenen Fußstapfen
und gleich darauf der Jeep vor ihr auf, offenbar ist sie unfähig,
die Richtung zu halten. Es ist wirklich zu komisch, regelrecht
grotesk, doch das Lachen ist ihr vergangen. Wo sie nun einmal da ist,
kann sie auch gleich hupen. Wie erwartet hat die Hupe keinen Schaden
genommen, ihr Lärm ist ohrenbetäubend, solange man
danebensteht, und verliert sich doch in der Weite wie das Summen von
Fliegen an einem Sommertag. Mittlerweile, da das Eis seit einer
geraumen Weile schweigt und sich keine Risse zeigen, wird Liv etwas
sicherer, und nach einer Weile lässt sie die Hupe los und
durchsucht den Kofferraum nach etwas Nützlichem. Sie findet eine
Wolldecke, ein Paar Herren-Winterstiefel und einen Campingkocher, den
sie sofort in Gang bringen will. Es gelingt ihr nicht. Dann wieder
ein Splittern, sie realisiert die Schwingungen der Eisfläche und
startet einen neuen Anlauf, die Straße zu erreichen, von der
sie gefallen ist. Mit dem Unterschied, dass sie diesmal nicht rennt
und zumindest darum bemüht ist, die Nerven zu bewahren. Was sie
sich einbläut:Allzu weit kann es nicht sein. Schließlich
legt ein führerloses Fahrzeug keine zig Kilometer zurück –
auch nicht auf Eis. Einer jämmerlich verspäteten Eingebung
folgend, sucht sie nach Reifenspuren, findet aber keine.Anscheinend
ist sehr viel Schnee gefallen, während sie ohnmächtig war
oder schlief. Sie geht in die Richtung, aus der das Auto gekommen
sein müsste, falls es sich nicht um die eigene Achse gedreht
hat, bevor es zum Stehen kam. Darüber sollte sie jetzt besser
nicht nachdenken.
Obgleich Liv zügig voranstapft, ist ihr inzwischen wieder
genauso kalt wie unmittelbar nach dem Aufwachen. Sie hat sich Rúnars
Decke über die Schultern gelegt: ein Stück isländische
Handarbeit, Schurwolle, leicht und dabei
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