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Wiedersehen in Hannesford Court - Roman

Wiedersehen in Hannesford Court - Roman

Titel: Wiedersehen in Hannesford Court - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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fand ich den Professor allein vor. Er war unbeholfen auf einen Stuhl gesunken, wirkte erschüttert und wischte sich mit seinem Taschentuch die Stirn. Als er mich sah, wollte er aufstehen.
    »Es ist nichts, Tom. Gar nichts«, hatte er beharrlich wiederholt. »Nur eine kleine politische Meinungsverschiedenheit, das ist alles. Es sind unruhige Zeiten.«
    Wie schwer musste er es als Deutscher, der England liebte, in jenen letzten Tagen gehabt haben. Dabei waren uns viele deutsche Dinge vertraut: deutsche Volkslieder, deutsche Gouvernanten, deutsche Kellner in Cafés, deutsche Hunde, deutscher Weißwein, deutsche Aristokraten in der königlichen Loge in Ascot.
    Über die Amerikaner wussten wir sehr viel weniger, und für die Mütter in Lady Stansburys Kreisen kamen sie als Ehemänner ihrer Töchter nicht infrage. Doch bei Kriegsende hatte sich London verändert. Inzwischen war Amerika groß in Mode: amerikanische Soldaten, amerikanische Musik, amerikanische Darlehen. Falls ich bis jetzt noch nicht begriffen hatte, wie einschneidend diese Veränderung war, wurde es mir an jenem Abend in der Großen Halle von Hannesford Court klar.
    Bevor wir zum Essen hineingingen, nahm mich Lady Stansbury beiseite.
    »Tom, mein Lieber, auf ein Wort. Später finden wir womöglich keine Gelegenheit dazu.«
    Ich merkte, dass sie sich unwohl fühlte, und murmelte etwas über Sir Robert und den Gedenkgottesdienst.
    »Oh, ja, natürlich. Wir wären Ihnen so dankbar. Sir Robert möchte, dass einer von Harrys Offizierskameraden spricht, und Sie finden immer die richtigen Worte …« Sie verstummte, schien sich meiner Zustimmung sicher. »Doch um die Wahrheit zu sagen, wollte ich eigentlich mit Ihnen über Reggie sprechen. Es fällt mir so schwer, das mit Sir Robert zu tun. Es regt ihn furchtbar auf. Sie haben doch von Reggie gehört, oder?«
    Noch nie hatte ihre Stimme so ernst geklungen. Die alte Lady Stansbury, die in einem Zustand milder Abgeklärtheit durchs Leben geschwebt war, hatte immer mit einem gewissen aristokratischen ennui gesprochen.
    »Ich hörte, es sei schlimm. Aber auch, dass er gute Fortschritte mache.«
    Sie nickte kurz und ein wenig ungeduldig.
    »Fortschritte. Ja.« Unsere Blicke begegneten sich. »Reggie hat beide Beine verloren. Und er hat … Narben. Im Gesicht. Er sieht …«
    Ihre Stimme bebte, und es war, als gestattete sie mir zum ersten Mal einen Blick hinter die Fassade. Doch dann hatte sie sich wieder in der Gewalt, sprach knapp und ein wenig unwirsch.
    »Es tut mir leid, aber Leute, die das nicht gewöhnt sind, könnten seine Verletzungen ziemlich abscheulich finden. Die Granate hat einen Teil seines Gesichts weggerissen.«
    Während sie sprach, überkam mich wieder das schreckliche Gefühl von Wertlosigkeit, wie immer in Gegenwart von Männern, die einmal unversehrt gewesen waren wie ich. Nach einem Jahr inmitten des Sturms hatte ich mich nicht mehr vor dem Tod gefürchtet. Ich rechnete damit zu sterben. Doch wann immer ich Männer auf Tragen erblickte, deren Unglück es gewesen war, nicht zu sterben, deren menschlicheGestalt auf furchtbare Weise entstellt oder ruiniert war … in jenen Augenblicken überkam mich eine andere, vernichtendere Angst. Und als Lady Stansbury an diesem Abend über Reggie sprach, spürte ich dieses Grauen erneut.
    Ich zeigte es natürlich nicht.
    »Der arme Kerl. Es muss schrecklich für ihn sein.« Wie hatte mich Bill genannt? Zuverlässig.
    »Ich fürchte, Reggie kommt nicht gut damit zurecht. Er ist kein Stoiker, das war er nie. Ihm fehlte es immer an Selbstbeherrschung. Es gibt dort so viele junge Männer, die aus allem das Beste machen, aber Reggie ist einfach so zornig. Er ist immer zornig. Er will uns meistens gar nicht sehen. Und jetzt hat er geschrieben, dass er Weihnachten nicht nach Hannesford kommt.«
    Sie hielt inne, und ich las aufrichtige Bestürzung in ihrem Gesicht.
    »Warum schreibt er so etwas? Wir können doch hier alles für ihn tun. Und ich habe ihm wieder und wieder gesagt, wie sehr wir uns wünschen, dass er nach Hause kommt. Wir würden ihm ein Schlafzimmer im Erdgeschoss einrichten und natürlich eine Pflegerin einstellen. Doch sobald ich versuche, mit ihm darüber zu reden, bekommt er einen seiner Wutanfälle und sagt, er wolle nichts mit Hannesford oder uns zu tun haben, nie wieder. Um seine Worte zu benutzen: er wolle nicht zu einer … Monstrositätenschau beitragen.«
    Ihre Verzweiflung war nicht zu übersehen. Mich überkam der Impuls, ihre Hand zu

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