Wiedersehen in Harry's Bar
rostig und an anderen von Millionen aufgeregter Hände im Laufe der Jahre blank poliert worden, von Besuchern, die von hier aus staunend über die Lichter von Paris blickten. Hieroben ist es so kalt, dass ich meine Fingerspitzen schon nicht mehr spüre, obwohl ich die Hände tief in den Taschen meines Parkas vergraben habe. Seit der Fahrt im Aufzug nach oben spüre ich auch meine Ohrläppchen und meine Nasenspitze nicht mehr.
Trotz der Dunkelheit und der Kälte halten sich hier noch viele Touristen auf, posieren für Fotos und machen einander in einem halben Dutzend verschiedener Sprachen auf die Wahrzeichen tief unten aufmerksam. Hier oben zu sein, lässt sie irgendwie wichtig erscheinen, als Teil von etwas, das viel größer ist als sie selbst. Sie benehmen sich wie Stars beim Foto-Shooting. Voller Stolz ziehen sie Schnuten und Schmollmünder. Sie haben Wasserflaschen und heiße Schokolade und Sandwiches aus dem Bistro dabei, Plastiktüten aus dem Souvenirladen. An den Schaltern hat es heute Abend keine zusätzlichen Sicherheitsmaßnahmen gegeben, warum auch? Die Schießerei am Nachmittag in der Rue Oberkampf war ein singulärer Zwischenfall gewesen, der Öffentlichkeit die Identität des einzigen Opfers noch nicht bekanntgegeben, jedenfalls kein Grund zur Panik in der Stadt der Lichter. Niemand hat den Behörden geraten, den Eiffelturm besonders im Auge zu behalten, denn wenn das geschehen wäre, hätte keiner von uns bis hier heraufgelangen können.
Und ich hätte dich nie wiedergesehen.
Aber jetzt sehe ich dich.
*
Du stehst zwanzig Meter von mir entfernt, wartest auf der gegenüberliegenden Seite der Plattform mit verschränkten Armen und gegen das Geländer gelehntem Rückenauf mich. Wir befinden uns dreihundert Meter über der schönsten Stadt der Welt, und du schaust nur mich an.
Wind und Regen wehen mir kräftig ins Gesicht und lassen meine Augen ein bisschen tränen, und als ich näher komme und die Tränen wegwische, sehe ich, dass du blutest. Nicht viel, noch nicht. Das Blut rinnt aus dem rechten Nasenloch über Lippen und Kinn. Von hier aus kann ich nicht sehen, ob du mich erkennst oder nicht.
»Gobi.«
Du lächelst traurig. Du sagst etwas auf Litauisch. Es hört sich wie ein Gebet an.
»Wo hast du den Lieferwagen gelassen?«
Du blinzelst und starrst mich an.
»Wo ist meine Familie?«
Deine Augen tasten mich ab, beinahe zaghaft, aber ohne mich richtig zu erkennen. Es sieht aus, als hättest du jemanden in einem Flughafen getroffen, einen alten Bekannten, dessen Gesicht dir vertraut vorkommt, an dessen Namen du dich aber nicht erinnern kannst.
»Ich weiß, dass du sie magst«, sage ich. »Ich weiß, dass du ihnen nie weh tun würdest. Sag mir einfach, wo sie sind.«
Du lächelst wieder, dann zuckst du zusammen und berührst deinen Kopf, als hättest du plötzlich schreckliche Schmerzen.
»Meine Mom, mein Dad und meine kleine Schwester Annie«, sage ich. »Du kennst sie. Du kannst dir ihre Gesichter vorstellen.«
Du schüttelst nur den Kopf.
Dann, nur wenige Sekunden später, ziehst du die Pistole.
45
»Stand Up«
– The Prodigy
Ich weiß nicht, wann die Polizei auftauchte. Ein besonders aufmerksames japanisch aussehendes Schulmädchen, die links von uns stand, bemerkte die Pistole in Gobis Hand und telefonierte, und innerhalb von fünf Minuten war die gesamte Aussichtsplattform leer.
Und dann waren nur noch wir und die Bullen dort. Gobi und ich schauten zu, wie immer mehr Polizeiautos mit blinkenden Lichtern auf die Avenue Anatole France einbogen, sich in einen Fluss aus blinkendem Blau neben dem eigentlichen, dunkleren Flussbogen der Seine verwandelten. Als die Fahrstuhltür das nächste Mal aufging, spuckte sie einen Trupp Gendarmen in kompletter Kampfausrüstung aus.
Aber als sie sahen, was Gobi mit der Pistole machte, blieben sie auf ihrer Seite der Plattform. Einer von ihnen rief etwas, und obwohl ich die zwei Jahre Französisch auf der Highschool komplett verschlafen hatte, kapierte ich sofort, was er wollte. Lass ihn gehen! Leg die Waffe hin! Hände hoch! Das volle Programm. Gobi ignorierte ihn komplett und konzentrierte sich vollends auf mich.
» As tave myliu «, sagte Gobi. Mit ihrer freien Hand strich sie mir das nasse Haar aus dem Gesicht. »Deine Haare werden langsam zottelig, mielasis. « Dann richtete sie die Pistole wieder auf meinen Kopf.
»Es muss nicht so enden.«
»O doch.«
»Sag mir einfach, was du mit meiner Familie gemacht hast. Sag mir, wo sie
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