Wiedersehen in Kairo
ihn, und David wurde stumm.
St. Jones lächelte. »Habe ich endlich das Mittel gefunden, den Unsinn zu unterbrechen, den du fortwährend von dir gibst?«
David blinzelte.
»Ich sehe keine Schwierigkeiten«, fuhr St. Jones fort und zeichnete Davids Lippen mit den Fingerspitzen nach. »Ich sehe nur den Mann, den ich liebe.«
David schloss erneut die Augen und genoss den Augenblick. An diese Worte würde er sich erinnern, wenn St. Jones längst wieder in London war, und vielleicht wäre es mit dieser Erinnerung leicht, zu sterben. Er nahm St. Jones Gesicht in beide Hände, dann drückte er den Kopf an seine Brust und warf den Oberkörper nach hinten, während er lächelte wie eine Sphinx.
Der Weihnachtsengel
23. Dezember, und am Vormittag hatte es geschneit. Weiße Weihnachten? Diesen Traum hatte der nachmittags einsetzende Nieselregen weggewaschen.
Dieter L. sah aus dem Fenster. Der Himmel war genauso verhangen wie seine Stimmung. Um Nikolaus herum hatte er noch versucht, die heraufziehende Gemütskrise, die ihn seit Jahren im Dezember überfiel, zu verharmlosen. Er hatte die Pfefferkuchen ignoriert und die Weihnachtsmänner, die Festbeleuchtung in den Straßen und die Weihnachtsbaumverkäufer. Dafür hatte er Akten aus der Firma mit nach Haus geschleppt. Dieter L. war Versicherungskaufmann. Kein unehrenhafter Beruf, gewiss nicht, aber auch nichts Schillerndes.
Er war um die vierzig, mittelgroß, hatte pfützenfarbenes Haar, Dackelaugen und einen weichen Mund. Ein Mann, den man übersah, was schließlich nicht nur Nachteile hatte, aber Dieter war schwul und das, was man eine Tunte nannte. Und weil es nun einmal so war, wäre Dieter gern schillernd gewesen. Nicht gerade eine Dragqueen, aber vielleicht Werbefachmann oder Maskenbildner.
Im Büro war er gelitten. Irgendwann hatte sich auch der letzte Tuntenwitz überlebt, und schwulenfeindlich war von den Herren Kollegen selbstverständlich niemand – ich bitte Sie! Man ist doch aufgeklärt heutzutage. Der Dieter ist ein richtig Netter, sagten sie, und Dieter war nett. Er passte auf Hund oder Katze auf, holte für Oma Lienau im vierten Stock die Zeitung – mache ich doch gern – und verschenkte massenhaft Zigaretten.
Dieter sah aus dem Fenster und wusste, dass er es nicht mehr verdrängen konnte, das Fest der Liebe. Unaufhaltsam schlitterte er hinein, genau genommen seit Mitte September, da lagen die ersten Lebkuchen in den Kaufhäusern. Dieter seufzte und zündete die vier Adventskerzen an. Es wurde jetzt ja so früh dunkel. Danach machte er sich einen Kaffee, und da waren sie: die Spekulatius, die Dominosteine und die Servietten mit Tannenzweigen und goldenen Engeln drauf. Wie war das bloß alles in sein Haus gekommen? Was für ein unwiderstehlicher Zwang hatte ihn da gestern Abend noch ins Kaufhaus getrieben, in das goldglitzernde, selige Weihnachtsgewühl, hatte ihn hastig zusammenraffen lassen, was irgendwie nach Weihnachten roch – und leise rieselten die Weihnachtslieder. Kinderseligkeit! Geborgenheit herüberretten aus einer verklärten Zeit. Illusionen. Aber wer brauchte sie nicht? Dieter brauchte eine Menge.
Nach dem Kaffee zog er seine gefütterte Windjacke an und ging ins Knossos. Es war schon dunkel, ein unangenehm kalter Wind blies ihm ins Gesicht. Zum Glück war das Knossos, ein Kaffeeklatschtreff für Lesben und Schwule, nicht weit. Dieter schlüpfte rasch ins Warme, murmelte »Mistwetter« und nickte Jan, dem Wirt, flüchtig zu. Der nickte zurück. »Einen Milchkaffee wie immer?«
»Wie immer, heiß, aber nicht zu süß.«
»Ein Stück Kuchen dazu? Ist schließlich Weihnachten.«
»Danke, danke. Ich muss auf meine Linie achten.« Dieter sah sich um, aber niemand grinste, denn die Kontakttische gleich am Eingang waren leer. »Ist morgen geöffnet?«, fragte Dieter.
Jan nickte. »Wie immer.«
Dieter setzte sich in die Ecke, wo die Zeitschriften auslagen, und blätterte flüchtig darin. Er kannte sie auswendig, aber so konnte er die anderen Besucher besser beobachten. Heute gab es nicht viel zu sehen. Am anderen Ende saßen zwei junge Burschen, die sich verliebt in die Augen sahen, am Nebentisch trank Willi Wohlert, Hausmeister und hetero – ›eure Atmosphäre hat irgendwie Stil, Jungs‹ – sein abendliches Helles.
Als er Dieter sah, kam er herüber. »Na Dietlinde? Schon alle Geschenke beisammen?«
Dieter störte es nicht, wenn man ihn Dietlinde nannte, nur von Willi. Er führte die Hand mit theatralischer Geste an die Stirn.
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