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Wiegenlied Roman

Titel: Wiegenlied Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Cantz
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Schafsgesicht umgab, auf dem zwei Flecken Wangenrouge leuchteten, als befände sie sich in nervösem Fieber. Während sie an ihrer Pfeife sog, beäugte sie Elsa von oben bis unten, stieß süßlichen Tabaksqualm vor sich her und forderte ihren halben Silbertaler. Nachdem dieser in einem Beutel an ihrem Rockbund verschwunden war, bedeutete sie Elsa, ihr zu folgen. Oben, am Ende eines kurzen, muffigen Gangs, übergab sie ihr den Schlüssel zu der dortigen Kammer und stellte auf einem von zwei schiefen Stühlen das Licht ab. Als Elsa die zerquetschten Wanzen an der Wand über dem Bett bemerkte, schauderte sie und dankte im Stillen dem Kandidaten, denn er hatte ihr empfohlen, eigene Leintücher mitzubringen.
    Für das feuchte Brennholz, mit dem sie den eisernen Ofen befeuerte, nahm die Wirtin ihr drei Groschen ab, und als Elsa um einen Krug Wasser bat, in dem sie Kamillensud ansetzen sollte, dessen Geruch ihr zuwider war, ließ die Frau sich es mit einem Sechser bezahlen und nannte sie fortwährend Mamsellchen.
    Der gedrungene Mann, dem Elsa auf sein Klopfen hin wenig später öffnete, reizte sie wegen seines deutlich abgetragenen Hutes, der Augenmaske und dem schwarzen Tuch über Nase und Mund zum Lachen, was er mit einem durchdringenden Blick quittierte.
    Später, als sie wieder denken konnte, sagte Elsa sich, dass es vielleicht ein Fehler gewesen war, ihn zu verärgern, zumal sie es wegen des Sprechverbots nicht wiedergutmachen konnte.

    Doch zu jenem Zeitpunkt, als dieser fremde Mann ihr mit einer Geste befahl, sich auf den Bettrand zu setzen und mit angehobenen Röcken die in seinem zweiten Brief sachlich beschriebene Haltung einzunehmen, befand sie sich aufgrund des ungewohnten Genusses von einem Quart Marillenbrand in dankenswert gelöster Stimmung. Sie schloss die Augen, als er, ohne den Umhang abzulegen, seine Ledertasche öffnete, und verbot sich, an seinen Bewegungen im Zimmer oder den Geräuschen, die seine Handlungen verursachten, erraten zu wollen, was er gerade tat. Ein schwacher Geruch schien von ihm auszugehen, der eine unbestimmte Erinnerung an ihren Vater weckte, wenn er aus dem Gebärhaus nach Hause gekommen war.
    Sie spürte die plötzliche Wärme des Kerzenlichts zwischen den Schenkeln und auch, dass die Hände des Mannes zunächst zitterten. Sie zwang sich weiterzuatmen, während er einen kühlen metallenen Gegenstand in sie schob, der sie offenbar weiten sollte, um anderen Instrumenten Zugang zu verschaffen. Doch als der Kamillensud schmerzhaft wie eine heiße Nadel auf ein Organ in ihrem Innersten traf, für das sie keinen Namen hatte, schossen ihr Tränen in die Augen und ließ sie mit einem leisen Laut nach Luft schnappen.
    Auf der Gasse hörte Elsa jemanden singen, dass er nicht um sie weinen würde. Im Haus krachte eine Tür, und im Ofen knackte das brennende Holz. Der Mann blieb, wie abgemacht, stumm.
    »In unserem Beruf verbringt man viel Zeit mit Warten«, hatte Helene gesagt.
    Der Mann, der in dieser Nacht noch davon überzeugt war, ein angehender Arzt zu sein, bemerkte, dass seine Patientin, die, nach dem, was er von ihr zu sehen bekam, eine sehr
schöne Frau sein musste, lautlos zu schluchzen begann. Er befürchtete eine ungünstige Verhärtung der Geburtsteile und griff nach der Flasche, die neben dem Bett stand. Er beugte sich über den ersten gefallenen Engel, den er zu retten gedachte, umfasste ihren Nacken und setzte ihr die Flasche an den von Gaze bedeckten Mund. Nachdem sie einige Schlucke genommen hatte, ohne ihn anzublicken, löste er sein Halstuch und wand es ineinander zu einem festen Strang.
    »Haben Sie keine Angst«, flüsterte er, hob ihren Schleier an und schob ihr das Tuch zwischen die Zähne.
    Seiner Tasche entnahm er eine dünne gebogene Röhre aus Silber, sieben Zoll lang, von der Stärke eines Gänsekiels. Es war ein von Professor Siebold weiterentwickeltes Instrument, in dem eine Nadel zur Sprengung der Eihäute verborgen lag. Sein Erfinder Wenzel hatte bis hin nach England Anerkennung dafür gefunden. Selbstredend war es für andere Fälle gedacht als diesen. Die Anfertigung bei einem Instrumentenmacher hatte ihn zwei Friedrich d’or gekostet, und mehr hatte er von der Frau nicht verlangt, die sich ihm anvertraute.
    Sie hatte sich beruhigt, und er kniete sich wieder zwischen ihre weiß bestrumpften Beine. Er zog den Stuhl mit der Kerze etwas näher und bedauerte, dass ihm niemand assistierte.

Drei
    MAI 1828
    Am Rande Berlins, im Nordwesten, wo das Spandauer

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