Wiegenlied Roman
Viertel in Gärten, Äcker und Wiesen überging, notierten Ärzte der Charité die Verbreitung der Krankheiten ebenso akribisch wie den Stand des Barometers, die Temperaturen und Windrichtungen. Damit hofften sie, den Gesetzmäßigkeiten der Ansteckungswege auf die Spur zu kommen. Nach Lage der Dinge deutete in diesem Jahr noch nichts darauf hin, dass eine der gefährlichen Krankheiten sich im Volk massenhaft ausbreiten würde.
Die Ärzte hatten Schnupfen und Halsentzündungen zu kurieren, Scharlachfieber und hartnäckige Lungenentzündungen. Einige ernste Fälle von Mundbräune gaben wegen vermehrter Ansteckung Anlass zur Besorgnis, und der Typhus hatte in diesem noch jungen Jahr 1828 schon zahlreiche Opfer gefordert.
Man zählte die heiteren und trüben Tage oder wie oft am Ende eines Mondes Nebel geherrscht oder die Atmosphäre sich nach wendigen Wettern beruhigt hatte - so wie heute, wo Frühlingswärme den Bäumen endlich erstes Blattgrün entlockte.
Die Betten der Charité waren allerdings auch ohne Epidemie voll mit den Armen der Stadt. Ob sie von Krätze oder Pocken befallen waren, Schwindsucht oder Syphilis, ob schweres Fieber sie quälte oder entzündete Augen - sie litten an
den Folgen von Hunger und denen eines langen Winters. Es machte sie anfälliger für jene Krankheiten, denen die Ärzte mit Aderlass und Stärkungsmitteln, Brechmitteln und Blutegeln, Umschlägen und Bädern zu Leibe rückten.
Der imposante Bau des Charité-Krankenhauses wirkte mit seinen zwei Nebenflügeln und drei Stockwerken wie eine kleine Stadt. Ein Papier der Armendirektion galt als Passierschein, um hinter die gelb getünchten Mauern zu gelangen, wo weder Pflege noch Heilung, ja nicht einmal der Tod etwas kosten sollte. Die guten Zeiten aus den Anfängen der Charité allerdings, in denen jeder Kranke ein eigenes Bett und sättigende Mahlzeiten erwarten durfte, waren mit den Jahren drangvoller Enge gewichen. (Das schändliche Jahr, in dem die Charité als Militärhospital der Franzosen dienen musste, hatte das Haus in tiefste Verwahrlosung geführt, wovon es sich nur mühsam erholte.)
Am Ende des südöstlichen Flügels, in einem Bureauzimmer hinter der neuen Abteilung für Gemütskranke, befanden sich der Erste Wundarzt und Accoucheur Professor Urs Hähnlein, gemeinsam mit Geheimrat Felix von Orth, dem medizinischen Direktor der Charité, ratlos. Während durch Gänge und Türen das kindliche Weinen verstörter Menschen in das Bureau gelangte und darüber hinaus ein Kanon monotoner Gesänge aus dem Krankensaal der Gemütskranken zu hören war, behielten die beiden Gelehrten ihr Gegenüber im Auge, jene ehrgeizige junge Frau, deren Vater ihnen geschrieben hatte und den man unbedingt zu gewinnen suchte, wobei ein besonderer Reiz darin lag, Siebold, der ihnen mit seiner eigenen Gebäranstalt ein Dorn im Auge war, ernstlich zu verärgern. Schließlich hatte der Mann dem Ruf der geburtshilflichen Lehre an der Charité empfindlichen Schaden zugefügt.
Allein, man überhäufte ihn mit Orden und Ritterkreuzen für seine vorbildliche Anstalt, die Zarenmutter hatte Siebold gerührt einen Brillantring verehrt. Damen von Stand ließen ihn als Geburtshelfer in ihre Häuser holen, und nachdem er der Herzogin von Cumberland bei einer schwierigen Geburt als Retter erschienen war, reiste der Adel aus England an, um sich in Berlin von ihm entbinden zu lassen. Wie sollte man da als Armenarzt eines überfüllten Spitals die Nerven behalten?
Zunächst hatte Hähnlein nicht geglaubt, Hoffnungen in Heuser setzen zu können. Der viel gerühmte Kollege war nach dem Tod seiner Frau vollkommen gebrochen, hörte man. Doch nun schien Heuser bereit, den Weg nach Berlin anzutreten, womöglich um schmerzlichen Erinnerungen zu entkommen, indem er ein neues Leben begann. Wie gern wollte man ihm diesen Weg ebnen! Würde er nur nicht diese Bedingung stellen, die alles zu einer delikaten Angelegenheit machte.
Seine Tochter hatte nicht nur in dem ausführlichen Gespräch mit ihnen Eindruck hinterlassen. Sie mussten feststellen, dass ihr Wissen größer war als das so mancher Studenten fortgeschrittenen Semesters. Und bei ihrem gemeinsamen Gang durch ausnahmslos alle Abteilungen der Charité hatte Fräulein Helene Heuser ihnen gezeigt, dass sie beim Anblick eiternder Wunden oder wegen übler Gerüche, denen man mit qualmenden Räucherpfannen zu begegnen suchte, nicht die Besinnung zu verlieren gedachte. Weder brach sie im Anatomiesaal in Tränen aus, wo ein
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