Wiegenlied Roman
Familie offenbar nicht. Aber ja! Sollte dies etwa der Grund sein, warum Mutter keinen Wert darauf legte, mich zu sehen?«
»Oh, hör doch auf!« Helene hatte Mühe, die Stimme zu senken. Sie zitterte vor Wut. »Und bitte tu nicht so, als wäre deine Schwangerschaft ein Theaterstück, das man absetzen kann, wenn es beim Publikum schlecht ankommt.«
Elsa schien zu schweben, so lautlos lief sie im Zimmer umher, nur wie das Federbett über den Boden schleifte, war zu hören, und ihr heftiges Atmen. Fast glaubte Helene ihre Schwester nie schöner gesehen zu haben, und sie fragte sich, wann es eingesetzt hatte, dass sie sich als die Ältere von beiden fühlte. War es, als Elsa in Berlin vor lauter Lampenfieber nur eine fahrige Umarmung für sie übrig hatte, nachdem sie von dem gescheiterten Antrittsbesuch in der Königlichen Gebäranstalt zurückgekommen waren? Oder als sie beschloss, Elsa die Nachricht vom Tod der Mutter erst nach der Premiere so schonend wie möglich zu übermitteln?
Noch während Helene sich angstvoll fragte, ob sie einander fremd wurden in diesem Moment, umschlang Elsa sie mitsamt der Bettdecke und lehnte die schweißfeuchte Stirn an ihre.
»Ich kann nichts anderes sein als eine Schauspielerin«, flüsterte sie. »Wenn ich meinen Beruf für eine Heirat aufgeben müsste, würde ich daran zugrunde gehen. Ich hatte gehofft, du würdest mich verstehen.«
»Elsa, wenn ich täte, was du von mir verlangst, könnte ich Vater nicht mehr unter die Augen treten, in Wahrheit keinem Arzt oder Gelehrten, von dem ich mir erhoffen würde, noch etwas zu lernen.«
»Dann sag mir nicht, dass es dir um mein Leben geht.«
Helene sah kupferne Flecken in Elsas grünen Augen flirren, während in ihren Schläfen heftiger Kopfschmerz zu pochen begann.
»Lass uns morgen weiterreden«, sagte sie. »Wir sollten schlafen. Es wird bald hell.«
Sie wartete, bis Elsa sich widerspruchslos von ihr abwandte. Dann drehte sie das Licht herunter und ging zur Tür.
»Ich will noch nach Vater sehen.«
»Helene?«
Elsas Stimme war jetzt sehr ruhig.
»Wir werden dieses Gespräch nicht fortführen«, sagte sie. »Ich habe dich schon verstanden.«
So hielten sie es. Elsa sorgte dafür.
Als Helene am späten Morgen erwachte, hatte sie das Haus in der Hofstatt schon verlassen. Von Lina, die nach oben kam, um warmes Wasser in die Waschschüssel zu füllen und Helene, ob sie es nun wollte oder nicht, eine Tasse Kaffee zu bringen, erfuhr sie, dass Elsa zu Malvine gegangen war.
Am Tag ihrer Abreise jedoch ertrug Helene es nicht länger, sie wollte es nicht bei dem hölzernen Abschied, den sie im Haus voneinander genommen hatten, belassen. Sobald ihr verstummter Vater sich wieder in sein Dachzimmer zurückgezogen hatte, verließ sie bei grauem Nieselregen die Hofstatt und rannte über den belebten Markt die Gassen hinunter bis zur Poststation.
Sie erreichte die Kutsche gerade, als Elsa sich anschickte einzusteigen, wobei ihr gleich zwei Herren behilflich waren.
»Auf ein Wort«, sagte sie atemlos, »ich bitte dich sehr.«
Elsa nickte den Herren zu und folgte Helene hinter die Kutsche. Unter der weiten Kapuze des Umhangs lag ihr Gesicht im Schatten.
»Willst du immer noch nach Berlin?«, fragte sie eisig.
»Ja natürlich, aber …«
»Dann lass dir sagen, dass Vater vorhat, an den Direktor der Charité zu schreiben.«
»Deswegen bin ich nicht hier«, sagte Helene und senkte ihre Stimme. »Elsa, was wirst du jetzt tun? Bitte versprich mir, dass du nichts unternimmst, was dir gefährlich werden kann.«
Wortlos wandte Elsa sich ab. Sie ergriff die Hand eines unsichtbaren Herrn aus dem Innern der Kutsche.
»Warte, bis ich komme«, rief Helene, »wir werden eine Lösung finden.«
Der Kutscher klappte das Treppchen hoch und schloss die Tür.
Als die Kutsche sich in Bewegung setzte, lief Helene ihr nach.
»Hast du mich gehört, Elsa? Unternimm nichts allein!«
Einer der Herren hob freundlich die Hand zum Gruß. Elsa lachte, als hätte jemand einen göttlichen Scherz gemacht.
BERLIN
Es traf ihn jedes Mal aufs Neue mitten ins Herz. Seit so vielen Jahren schon trieb ihm ihr schlafendes Antlitz nun Tränen in die Augen, ohne dass er sich ihrer jemals geschämt hätte. Bis heute, und so würde es immer sein, weinte er gern und voller Hingabe um sie. Bevor er sich auf den Weg zu ihr machte, steckte er stets ein zweites Schnupftuch in die Tasche seines betressten Leibrocks.
Er konnte kaum mehr die Finger strecken, um mit ihnen
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