Wiegenlied Roman
an den weißen Wellen ihres Haares entlangzufahren, und so zitterten sie vor Anstrengung, denn er durfte sie nur sehr sanft berühren. Langsam, in kleinen Schritten, die er keineswegs deshalb machte, weil alles andere ihm Schmerzen bereitete, sondern weil ihm allein daran lag, jede Sekunde auszukosten, die er mit ihr verbrachte, bewegte er sich an ihrem
ausgestreckten Leib entlang. Dabei hatte er zu vermeiden, dass sein Stock auf dem Marmorboden jenes kalte Klicken verursachte, das ihm seine Einsamkeit zu Gehör brachte. Wenn er sich in ihrer Nähe befand, wollte er sich nicht einsam fühlen, wie sonst sein ganzes Leben lang.
In Memel und Königsberg hatte er damit begonnen, diese Befindlichkeit zu konservieren, wie Anatomen es mit menschlichen Organen konnten. Seit er auf dem Arbeitstisch des königlichen Leibarztes Hufeland ein menschliches Herz gesehen hatte, in dessen Gefäße rotes Wachs injiziert worden war, um es zusätzlich zu einem Bernsteinfirnis haltbar zu machen, hatte er erstmalig darüber nachgedacht, ob er wohl auf ähnliche Weise mit seinen Empfindungen verfahren könnte. Die Jahre im Exil waren für ihn also keineswegs bitter gewesen, sondern unendlich kostbar.
Von draußen konnte er den Wind in den Fichten hören. Er stand dicht bei ihr. Und nun, da er zu ihrem Gesicht aufsah, schlug ihm das Herz bis zum Hals, denn sie sah aus, als würde sie jeden Moment erwachen, so wie das unruhig einfallende Sonnenlicht über ihre geschlossenen Augen zuckte. Fast hätte er seine Hand fortgenommen, obwohl er doch nie, niemals etwas anderes berührte als ihr Haar und die Falten ihres Schlafgewandes.
Die Zeit in ihrer unmittelbaren Nähe hatte aus ihm einen neuen Menschen gemacht. In jeder Begegnung fand sie ohne Anstrengung freundliche Worte und Gesten für ihn. Es hatte sogar Tage gegeben, an denen sie ihn ausdrücklich nach seinem Befinden fragte, während die Hofchargen ihn zu übersehen beliebten. Wobei er dies damals besser ertragen konnte, als die Abscheu in den Mienen der Leute zu entdecken. Heute glitt dergleichen vollkommen an ihm ab.
Die Prinzen allerdings hatten ihm in Königsberg jene schonungslose Grausamkeit in Erinnerung gebracht, die er aus seinen frühesten Jahren kannte. Tatsächlich war er davon überzeugt, dass sein kindliches Denkvermögen an dem Tag eingesetzt hatte, als er hören musste, wie seine Mutter die Frage an Gott richtete, warum er sie mit einem Sohn strafen musste, den sie abstoßend fand. Im Grunde also hatte er das Schlimmste schon hinter sich, als der Kronprinz und sein jüngerer Bruder ihm hinter den Gartenzäunen auflauerten, ihn verhöhnten und mit fauligen Kartoffeln bewarfen. Es war ihm ein Leichtes gewesen, sich damit zu beruhigen, dass sie noch Kinder waren.
Ihr Kopf war jetzt leicht von ihm abgewandt, und er ging auf die Knie, wie jedes Mal, bevor er sie verlassen musste. Die Kälte und die Schmerzen ließen ihn seine Liebe zu ihr mit einer solchen Wucht empfinden, dass es ihn zu einem reinen Wesen machte. Solange er noch so fühlen konnte, wollte er sich aus diesem Leben nicht verabschieden, auch wenn alles andere dafür sprach. Schon bevor er das Erwachsenenalter erreicht hatte, und das war vor langer Zeit in einem anderen Jahrhundert geschehen, hatte er sich die Freiheit genommen, die Selbsttötung als eine Option zu betrachten.
Seine knotigen Finger klammerten sich um den Gehstock. Das Aufstehen war eine mühevolle Angelegenheit, doch am Sarkophag abstützen wollte er sich nicht, es wäre ihm würdelos vorgekommen. Gerade als er ein Ächzen unterdrückte, das in dem Marmorgewölbe einen zweifellos scheußlichen Widerhall erzeugt hätte, hörte er ein leises Schluchzen.
Es kam von einer Frau. Sie näherte sich nahezu geräuschlos, als ob sie auf Zehenspitzen ginge. Obwohl sie flüsterte,
erkannte er ihre Stimme sofort. Inzwischen musste sie sich ihm gegenüber befinden, auf der anderen Seite des Sarkophags. Wie konnte sie es wagen? Was wollte sie hier? Er hielt den Atem an. Sein nächster Gedanke machte ihn mit einem Mal ruhig.
Wenn sie ihn entdeckte, würde er sie töten.
Elsa hatte sich bei den kleinen Rollen umgesehen und sich schließlich - denn viel Zeit blieb ihr nicht - für die kleine Habermann entschieden, von der man sich erzählte, dass sie in gewissen Häusern verkehrte, da ihre Gage vorne und hinten nicht reichte.
Sie beobachtete das Mädchen zwei Wochen lang, während die Proben für Ifflands Hagestolze begannen. (Offenbar wollte der
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