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Wiegenlied Roman

Titel: Wiegenlied Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Cantz
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Student aus dem geöffneten Bauchraum eines Leichnams unter der Anleitung eines Lehrers stinkende Flüssigkeiten schöpfte, noch hatte sie schlimmen Ekel bekämpfen müssen, als die besudelten
Laken der Syphilitischen und Krätzekranken an ihr vorbeigetragen wurden. Nichts von alledem schien neu zu sein für diese junge Frau, die sie mit ihrem Anliegen in außergewöhnliche Schwierigkeiten brachte.
    »Selbst wenn wir im Kollegium Einigung darüber finden, Sie studieren zu lassen«, sagte jetzt Professor von Orth, der als ehemaliger Militärarzt und Stabschirurg während seiner gesamten Laufbahn dem Gedanken an eine studierende Frau niemals hatte Raum geben müssen, »wir können Ihnen ohne die Genehmigung des Ministeriums für Medizinal-Angelegenheiten keine Hoffnungen machen. Das haben wir auch Ihrem Vater mitgeteilt.«
    »Dann haben Sie von dort noch keine Nachricht?«
    Helene wandte sich an Hähnlein, der am geöffneten Fenster seine Pfeife stopfte. »Ich will nicht unverfroren erscheinen, aber ich könnte mich in der Zwischenzeit nützlich machen, Ihnen assistieren oder schlicht den Dienst einer Hebammengehilfin versehen.«
    Helene schob eine Haarsträhne zurück unter den Strohhut. Abwartend behielt sie den Gelehrten im Auge, während er auf dem himmelblauen Rock ihres Kleides in Kniehöhe einen Fleck getrockneten Blutes bemerkte, der durch das Husten eines Typhuskranken dorthin gelangt sein musste, für dessen Brustwickel sie sich interessiert hatte.
    Hähnlein, der seit einem halben Menschenleben Hebammen unterrichtete und seit neunzehn Jahren gleichsam Medizinstudenten der Militärakademie, war sich im Klaren darüber, dass hier ganz und gar keine bescheidene Person vor ihnen stand, wenngleich die trügerische Sanftheit ihrer schönen Altstimme sie das glauben lassen wollte. Dass ihr Vater sie unterstützte, musste Gründe haben. Keinesfalls würde ein
Gelehrter seines Formats sonst Derartiges wagen und landesweit Hohn und Häme der hyänenhaften Kollegenschaft riskieren.
    Jetzt, nachdem er sich einen Eindruck von der jungen Frau hatte verschaffen können, reizte ihn der Schulterschluss mit Heuser, wobei an seinem Interesse, der Freiheit des akademischen Studiums eine Bresche zu schlagen, die Weigerung Siebolds eben nicht gänzlich schuldlos war.
    »Ich fürchte, es wäre unklug«, sagte Direktor von Orth, »wenn wir Sie in der Charité, in welcher Weise auch immer, tätig sein ließen, bevor von höherer Stelle eine Entscheidung gefallen ist. Es würde der Sache vermutlich schaden.«
    Geheimrat von Orth, selbst Vater dreier gottlob gut verheirateter Töchter, von denen zwei ihn bereits mit Enkeln beschenkt hatten, besah sich Helene nun schon eine Weile, ohne zu einem eindeutigen Urteil zu gelangen. Sie wirkte nicht rebellisch, sondern geradlinig. Sie verfügte neben ihrem Verstand zweifellos über ein wenn nicht schönes, so doch angenehm zu nennendes Äußeres, und so fragte von Orth sich im Stillen, ob eine Frau, die über das Mysterium des Geschlechtsaktes ohne Erröten sprechen konnte, nicht allem sehr kalt gegenüberstehen müsste und damit ihrer Weiblichkeit verlustig ging.
    Allerdings war dies nichts, was ihn ernstlich beschäftigen musste. Er hatte sich mit dem Wunsch des alten Hufeland zu befassen, der Professor Clemens Heuser in Berlin lehren sehen wollte. Man musste abwarten und derweil den Eifer der jungen Dame im Zaum halten.
    »Versuchen Sie, den Dingen gelassen entgegenzusehen, und versprechen Sie sich nicht zu viel, verehrtes Fräulein«,
sagte er. »Es wird Ihnen bewusst sein, dass Ihre Bestrebung eine beträchtliche Gegnerschaft auf den Plan ruft.«
    Helene schwieg einen Moment. Sie war erschöpft von der Reise und hatte Elsa nicht finden können. Im Gasthaus war sie die ganze Nacht nicht zur Ruhe gekommen vor Sorge. Doch das gehörte nicht hierher. Sie fühlte die Blicke der Herren auf sich und rief sich zur Ordnung.
    »Und Sie, meine Herren? Darf ich Sie als meine Fürsprecher wissen?«
    Während von Orth bedächtig seinen Kopf wiegte, klopfte Hähnlein die Pfeife auf dem Fenstersims aus und ließ sie in seiner Rocktasche verschwinden.
    »Lassen Sie es mich so sagen: Wir wären schlechte Wissenschaftler, wenn wir uns einem derartigen Experiment verschließen würden.«

    Moritz von Vredow gab seinem Pferd die Sporen, sobald er sich auf freiem Feld befand. Hinter ihm blieb der Gutshof zurück, der zwischen Pappeln und Weiden am Ende des Sees lag, ein lang gestrecktes Gebäude, das, wer

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