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Wiegenlied Roman

Titel: Wiegenlied Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Cantz
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wollte, mit Paretz vergleichen konnte, dem Landsitz des Königs. Tatsächlich hatten die Anwesen mit ihren gelben Mauern und den roten Ziegeldächern eine gewisse Ähnlichkeit in der Schlichtheit ihrer Bauten und Hofanlagen.
    Ein bescheidenes Gut, wenn man bedachte, dass es alles war, was von den Ländereien seiner Vorfahren geblieben war, die sie einst als Junker eines ostelbischen Markgrafen erhalten hatten. Durch Misswirtschaften, Lehnschulden und Erbvergleiche zerstrittener Geschwister war der Besitz der von Vredows im Laufe der Jahrhunderte zusammengeschmolzen
auf den zu Zeiten des Alten Fritz erbauten Gutshof mit dreißig Morgen Land.
    Es war fünf Uhr in der Früh. Die Sonne ging an einem klaren Himmel auf und weckte die Vögel im Schilf. Weit hinter den Birken, die den Weg am See säumten, erstreckte sich am Horizont die Maulbeerplantage, die sein Urgroßvater hatte anlegen lassen, um preußische Seidenmanufakturen mit den Kokons der Maulbeerspinner zu beliefern, ein Geschäft, das sich bis heute rechnete. Auch wenn der Gutsverwalter die Rechnungsbücher nicht anders als sorgenzerfurcht vorlegen konnte, was ihm, Moritz, jedes Mal eine lange Unterredung mit seiner Schwester einbrachte, die darüber beruhigt werden musste, dass sie keineswegs einem Ende im Damenstift entgegensah.
    Cecilie und er waren, wenn man von einigen versprengten Nebenlinien absah, die Letzten der von Vredows. Sein Vater, an den er noch immer nicht ohne Bitterkeit denken konnte, war bei einer Treibjagd tödlich getroffen worden, als hätte sich der Allmächtige zu einer sinnfälligen Metapher hinreißen lassen. Seine Mutter konnte es nicht verkraften, sie hatte den ganzen Mann nicht verkraften können, und schließlich hatte der Krebs sich über sie hergemacht. Noch heute, sechs Jahre nach ihrem Tod, konnte Moritz es sich kaum verzeihen, dass es ihm nicht gelungen war, sie wenigstens mit seiner Verehelichung glücklich zu machen. Schon das Schicksal ihrer erstgeborenen Tochter hatte Sophie Baronin von Vredow mutlos gemacht, denn Cecilie verfiel nach dem Tod des Verlobten, der als Rittmeister vor Leipzig sein Leben gelassen hatte, in unsägliche Trauer, die andauerte, bis sie ein ältliches Fräulein geworden war.

    Moritz hatte das andere Ende des Sees erreicht und sah hinüber zum Gutshaus, wo Elsa im ehemaligen Schlafzimmer seiner Mutter schlief. Obwohl sie über genügend Gästezimmer verfügten, hatte er gegen Cecilies Willen entschieden, dass sie es bewohnen sollte, da es das schönste im Hause war. Sie dort auf das Angenehmste unterzubringen, war einer seiner vielen hilflosen Versuche gewesen, gegen die lähmende Angst vorzugehen, die ihn befallen hatte, seit er Elsa in Berlin nachts aus einer Mietdroschke gehoben hatte.
    Während er sie in seine Wohnung trug und sein Bursche den Kutscher bezahlte, flüsterte sie, Moritz müsse sie fortbringen aus Berlin.
    »Wenn du mich liebst«, sagte Elsa, »bringst du mich fort, ohne Fragen zu stellen.«
    Mit Schrecken bemerkte er, wie fahl ihre sonst so schöne Haut unter den wirr gelösten Haaren war. Sie sagte, er möge dem Intendanten Nachricht von einer ernsten Erkrankung geben, und dabei spürte er ihren stockenden Atem an seinem Ohr.
    Es war keine Träne geflossen in jener Nacht, während sie darauf warteten, dass die Kutsche bereit zur Abfahrt war. Elsa hatte darum gebeten, alle Kerzen und Lampen im Zimmer zu löschen, und sie befanden sich allein im Licht eines hastig angefachten Kaminfeuers, Elsa mit angezogenen Knien auf der Ottomane liegend, Moritz in einem Lehnstuhl bei ihr sitzend, weil sie ihn nahe wissen wollte, und er berührte sie nicht, weil sie es nicht ertrug.
    Während die Dienerschaft hin und her geeilt war, um alles Nötige für die überstürzte Abreise ihres Herrn vorzubereiten, fiel Elsa in einen kurzen, unruhigen Schlaf, aus dem sie ihre letzten Kräfte für die Fahrt aufs Land schöpfte.

    Die Besinnung verlor sie erst, als ihr auf Gut Vredow das erste weibliche Wesen entgegentrat. Es war Fräulein Schröder, die sich Elsas aus Gründen annahm, die viele Jahre zurücklagen, denn Schröder, wie alle die Hausdame durchaus respektvoll nannten, war schon seit sechsunddreißig Jahren im Dienst der Familie. Sie erkannte die Zeichen, sobald sie mit Elsa allein war und ihr zu Hilfe kam. In den darauffolgenden Stunden ließ Schröder zahllose blutige Laken verschwinden, die sie nachts im Herdfeuer der großen Küche verbrannte.
    Auch ohne das Wissen um diese verborgenen

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