Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Wiegenlied Roman

Titel: Wiegenlied Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Cantz
Vom Netzwerk:
ansonsten hatte er sich niemandem
gegenüber zu verantworten. Seine Schwester musste lernen, Elsa zu respektieren, denn sie würde die neue Herrin auf Gut Vredow sein.
    Es war jetzt wohl gegen halb acht. Moritz lächelte, als er sein Pferd wendete. Er würde Elsa wecken lassen. Sie sollte sich daran gewöhnen, dass eine Baronin von Vredow keine Langschläferin sein durfte.

    Bereits zum dritten Mal zog Helene an der Klingelschnur neben der Eingangstür des großen, weiß getünchten Hauses mit der Stuckfassade, obwohl ihr bekannt war, dass Frau Direktor Stopfkuchen sich in Bad Pyrmont befand, um ihre strapazierten Nerven zu besänftigen und möglichst vielen Menschen aus Berlin zu begegnen, die dort das Gleiche suchten wie sie, nämlich Erholung und Neuigkeiten aus den heimischen Salons. Davon erhielt Helene Kenntnis durch Eveline, die ihr auch dieses Mal die Tür öffnete.
    »Ich kann Ihnen nichts Neues berichten«, sagte Eveline, in deren Aussprache es »Ick« und »nüscht Neuet« hieß, doch daran gewöhnte Helene sich langsam, und, mehr noch, es begann ihr ernstlich zu gefallen. Nach zehn Tagen in Berlin ertappte sie sich bereits dabei, ihre Gedanken in den Dialekt der Residenzstadt zu übersetzen.
    »Ich hoffte, Elsa hätte möglicherweise inzwischen geschrieben«, sagte Helene, und sicherlich war es ihr enttäuschtes Seufzen, das Eveline bewog, sie hereinzubitten. Im Übrigen war sie fasziniert davon, wie unterschiedlich Schwestern sein konnten.

    »Wenn es Ihnen nichts ausmacht, mir in die Küche zu folgen, Demoiselle Heuser«, sagte Eveline und schloss die Haustür hinter Helene, »… vielleicht möchten Sie eine Tasse Kaffee und etwas dicke Milch?«
    »Sie ahnen gar nicht, wie gern«, sagte Helene, die nicht den geringsten Grund sah, sich vor einem Dienstmädchen zu verstellen, das ihre Schwester offenbar sehr gut kannte und des Weiteren einen klaren Blick auf die Dinge zu haben schien.
    Die Küche im Souterrain kam Helene groß vor wie ein Ballsaal, obwohl sie noch nie in ihrem Leben einen betreten hatte. Überraschenderweise gab es sogar hohe Fenster hier unten und eine Tür, die in den kleinen Garten auf der Rückseite des Hauses führte, wo sich zwischen den Kräuterbeeten eine schwarze Katze putzte.
    Eveline, die eben dabei gewesen war, Kaffee aufzubrühen, belud ein Tablett mit Tassen und Löffeln. Als sie die Türen des Speiseaufzugs öffnete, waren von oben die Stimmen der übrigen Hausdienerschaft zu hören, die dem geschäftigen Rumoren nach in einem der zahlreichen Zimmer die Möbel verschob.
    Eveline stellte Helene eine Tasse mit dampfendem Kaffee auf den blank gescheuerten Tisch, und während sie Dickmilch aus einem Kupferkessel in dickwandige Schüsseln schöpfte, äußerte sie ihr Bedauern darüber, dass nun ausgerechnet weder Madame noch Demoiselle in Berlin waren und Helene im Gasthof logieren musste. Frau Direktor hätte das vermutlich nicht zugelassen.
    Helene kam es vor, als vermiede Eveline es, sie anzusehen, so geschäftig, wie sie zwischen den Schränken umherging, die runden Hände an der langen, blauen Schürze abwischte, eine ihrer blonden Haarsträhnen zurück unter die Haube
schob, die Kaffeekanne mit einer dicken Filzhülle versah und schließlich eine Pfanne mit zerbröckeltem Schwarzbrot aufs Feuer schob.
    »Sie vergöttert Demoiselle Elsa schlimmer als ein eigenes Kind«, sagte Eveline, »was kein Wunder ist, weil sie ja selbst keine kriegen konnte. Da soll mir noch einer sagen, die Welt ist gerecht. Dafür hat der olle Stopfkuchen, Gott hab ihn selig, Berlin eine ganze Kompanie Erdenbürger verschafft, man möchte es gar nicht wissen.«
    Gewandt schüttelte sie die Pfanne über dem Feuer. Der Duft des gerösteten Brotes erfüllte die Küche und ließ Helene heftigen Hunger verspüren. Nach einem kargen Frühstück im Schwarzen Adler hatte sie bereits Stunden die Stadt durchwandert, wie jeden Tag, seit sie auf Nachricht von Professor Hähnlein wartete. Eveline mengte Zucker unter die Schwarzbrotcroûtons, gab die Mischung über die Dickmilch und schob Helene ein Schüsselchen über den Tisch.
    »Ich rede zu viel, gute Güte, das muss daran liegen, dass Sie Hebamme sind. Ansonsten schweige ich wie ein Grab, was die Herrschaften angeht jedenfalls.«
    »Bestimmt«, sagte Helene und wünschte, dass Evelines Redefluss anhalten möge. Das Mädchen - in Wahrheit eine junge Frau, die sich im gleichen Alter wie Elsa befinden musste - stellte die Milchspeise zu dem Kaffee in den

Weitere Kostenlose Bücher