Wiegenlied Roman
Cecilie mit einem Henkelkorb am Arm beim Schneiden erster Rosen. Das passte zu ihr, dass sie Schönes, Blühendes gleich abschneiden musste, damit es ebenso schnell welkte wie sie! Malvine schloss für einen Moment die Augen und besänftigte sich mit einigen tiefen Atemzügen. Sie tat der Sache keinen Gefallen, wenn sie sich Cecilie zur Feindin machte.
Sie musste eine diplomatische List ersinnen, bevor sie das Gut verließ, damit dieses Mensch gewordene Dörrobst die gegenwärtige Lage nicht nutzte, um bei ihrem Bruder mit freudlosen Anmerkungen zu Elsas Charakter Zweifel zu säen.
Malvine ließ Elsas Brief im Ärmel ihres Kleides aus indischem Musselin verschwinden, für das sie in Frankfurt ein Vermögen ausgegeben hatte, und ging hinüber zum Toilettentisch.
Bevor sie irgendetwas anderes tat oder auch nur plante, musste sie eiligst Moritz von Vredow zu sich bitten.
Aus einem ihrer Flakons, dessen besonderer Inhalt mit einer zierlichen grünen Quaste kenntlich gemacht war, nahm sie einen angemessenen Schluck Jamaika-Rum. Erst nachdem sie sich einige Sekunden gestattet hatte, den wunderbar weichen Geschmack zu genießen, gurgelte sie mit Kölnisch Wasser, betupfte ihre Lippen mit ein wenig Pomade und klingelte nach der Kammerzofe.
Finlay Gordon liebte die konzentrierte Atmosphäre großer Bibliotheken. Die Königliche Sammlung in Berlin war unstreitig eine der bedeutendsten Europas, und ihm war bekannt geworden, dass man in jüngster Zeit den umfangreichen Literaturbesitz eines verstorbenen preußischen Medizinalrates aufgekauft hatte, der durch eine seltene Vollständigkeit selbst neuester Ausgaben von sich reden machte.
Von Professor Siebold hatte Finlay erfahren, dass die eben erworbenen Werke im Journal-Lesezimmer für Akademie-Mitglieder zur Ansicht ausgelegt waren, und er hatte auch die Güte besessen, ein Schreiben auszustellen, das ihn, den Besucher aus London, bei den Bibliothekaren als berechtigten Leser auswies. Die Hilfsbereitschaft des renommierten Kollegen hatte ihn in die glückliche Lage versetzt, sich tagelang zwischen drei und fünf durch die medizinischen Denkwürdigkeiten deutscher Geburtshelfer arbeiten zu können.
Es gab zahlreiche Werke, die er aus Übersetzungen ins Englische kannte, und andere, neueren Datums, die wiederum
vom Englischen ins Deutsche übersetzt worden waren. Seine eigene Veröffentlichung war ebenfalls darunter, und es hatte ihn mit nahezu kindlichem Stolz erfüllt, als er den einhundertdreiundsiebzig Seiten umfassenden Band in den Räumen dieses imposanten Hauses unvermutet in Händen hielt.
Enttäuschend war, dass er bislang auf nichts Neues gestoßen war. Alle Mutmaßungen über die Verbreitung jener fatalen Krankheit, die schon Hippokrates geschildert hatte, deren epidemische Ausmaße allerdings eine noch junge Geschichte schrieben, waren Doktor Finlay Gordon bekannt. Er befasste sich seit Jahren damit.
Vom Opernplatz war Pferdegetrappel auf dem Straßenpflaster zu hören, begleitet vom metallischen Sirren der Kutschenräder. Noch immer kam Sonnenlicht durch das hellgrüne Blattwerk des Baumes vor dem hohen Sprossenfenster und tanzte über die dunklen Tische im Lesezimmer. Finlay, der allein war und sich mit einem Mal kläglich fehl am Platze fühlte, beschloss, dass es Zeit war zu gehen.
Draußen empfingen ihn angenehme Temperaturen und der erfreuliche Anblick gut gelaunter Spaziergänger. Gemächlich wie Boote auf einem Gewässer zogen hier und da Wagen über den Platz, aus dem Leute einander grüßten oder auch nicht.
Noch während Finlay überlegte, in welche Richtung er sich zum Tiergarten begeben musste, sah er aus dem benachbarten Amtshaus der Bibliothekare, das, wie er wusste, ein öffentliches Lesezimmer beherbergte, eine junge Frau auf die Straße treten. Im Gehen schloss sie die Bänder ihres Hutes unter dem Kinn, was er ungewöhnlich fand, wobei es
ungewöhnlich genug war, sie aus diesem Gebäude kommen zu sehen. Er selbst konnte sich nicht erinnern, jemals eine Frau in einer Bibliothek angetroffen zu haben.
Klare, helle Augen fielen ihm auf, die von dunklen, sehr geraden Brauen betont wurden. Ein ernstes Gesicht, nachdenklich.
Es befremdete ihn, als er merkte, dass er ihr folgte, doch lassen konnte er es nicht. Sie ging zügig, ohne zu hasten, sie ging sehr aufrecht und doch keineswegs steif. Ihre Bewegungen waren harmonisch, ihr Gang zielgerichtet. Er fragte sich, ob sie vielleicht einen Roman gelesen hatte, der ihr zu Hause verboten war. Es
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