Wiegenlied Roman
Speiseaufzug.
»Madame jedenfalls könnte sich das ganze Haus füllen mit Kindern vom ollen Stopfkuchen - da hätten sie’s besser als da, wo sie jetzt sind, oder auch nicht«, murmelte sie.
»Vermutlich ist Elsa ihr lieber«, sagte Helene und nahm einen Löffel von der dicken Milch. »Das ist unglaublich gut! So etwas habe ich noch nie gegessen.«
»Dafür rennt ganz Berlin in die Zelte im Tiergarten, als könnte man’s nicht auch im Hause haben.«
Eveline schloss die Türen des Aufzugs und zog mit einem scharfen Ruck an der Klingelschnur.
»Dann stört schon keiner«, sagte sie.
Von oben war zu hören, wie jemand die Kurbel betätigte. Mit einem leisen Quietschen setzte sich der Speiseaufzug in seinem Holzgerüst hinter den Mauern in Bewegung.
Während Helene ihre Schüssel leerte, wandte Eveline sich geschäftig einer neuen Tätigkeit zu. Sie setzte einen Topf Milch aufs Feuer, schnitt eine Zitrone auf und drückte sie über einem Holzbottich im Waschstein aus.
»Madame lagen die Nerven blank, als sie so plötzlich verschwunden ist«, sagte sie, »aber dann kam ja der Brief vom Baron.«
»Ja?«
Einem bestickten Wäschebeutel entnahm Eveline mehrere Paare Glacéhandschuhe, die sie über den Waschstein legte, bevor sie die heiße Milch in den Zuber füllte.
»Ein plötzliches Brustübel hat eine schnelle Luftveränderung nötig gemacht, hieß es.«
»Sie können also lesen.«
»Die Gnädigste war beruhigt, dass er sie mit auf seine Latifundien genommen hat. Seit der Baron und Demoiselle Elsa sich hier im Hause zum ersten Mal gesehen haben, ist sie ganz verrückt darauf, die Hochzeit auszurichten. Wer weiß, vielleicht muss sie ja jetzt nicht mehr lange warten.«
»Vielleicht«, sagte Helene, »aber bei Elsa kann man es nicht so genau wissen.«
Eveline ließ die Handschuhe in den Bottich gleiten und drückte sie vorsichtig nach unten. Sie schwieg und schien nachzudenken. Dann hatte sie sich entschieden.
»Wir haben heute die Böden gemacht«, sagte sie. »Gründlich, bis in die letzten Ecken. Ich hab das hier gefunden.«
Sie trocknete ihre geröteten Hände an der Schürze, förderte ein zerknittertes Papier aus ihrem Rockbund zutage und legte es auf den Tisch.
Während Helene las, begann ihr der eigene Herzschlag in den Ohren zu dröhnen, und Schweiß trat ihr aus allen Poren. Was sie in Händen hielt, bestätigte ihre schlimmsten Ahnungen.
»Wurde der Brief von einem Boten gebracht?«, fragte sie leise.
Eveline schüttelte den Kopf.
Helene stand auf und warf den Brief ins Herdfeuer.
»Wenn Sie nicht gekommen wären …«, sagte Eveline, »… hätte ich es getan.«
Das als Erstes, liebste teuerste Malvine, ich habe zwei Friedrich d’or von dir geliehen, ich schwöre, du bekommst es zurück, sobald wir uns wiedersehen, was hoffentlich bald ist, obwohl ich nicht sicher bin, dass du es überhaupt willst, nach dem, was ich dir zumute. Ich habe nächtelang kein Auge zugetan, weil ich darüber nachgrübelte, wie ich mich verhalten soll zwischen all den verwickelten Umständen, weshalb ich aussehe wie eine Hundelotte, besonders nach einem Fußmarsch von staubigen dreieinhalb Stunden.
Du kannst aus dem, was ich dir in aller Hast schreibe, nun sehen, dass ich dich hintergangen habe, weil ich heimliche Pläne fasste, und natürlich habe ich Verrat an Moritz begangen, was du unverzeihlicher finden wirst, das weiß ich.
Er hat mich mit sich genommen, er hat dich kommen lassen, liebste Malvine, ich muss dir nicht aufzählen, was alles er mir Gutes getan hat, ich würde mich nur noch elender fühlen, und du hast es mir oft gesagt, wohl weil du fürchtetest, dass ich ihm vielleicht nicht dankbar sei. Aber das bin ich, und ich flehe dich an, mir zu glauben.
Möglicherweise habe ich Moritz mein Leben zu verdanken, wer will das schon wissen, ich bin in dieser Sache ahnungslos. Vieles habe ich dir nicht gesagt, und manches hast du vermutet, ich habe dich mit Doktor Steinhausen flüstern sehen. Dies alles liegt dunkel in meiner Seele.
Doch die Wahrheit hinter meinem Verhalten ist, dass ich, seit ich wieder denken kann, immer nur das eine denke: Wann kann ich wieder zurück nach Berlin? Wann werde ich wieder spielen können? Meine Angst war, der Intendant könnte schon die Rollen besetzen, während ich noch nicht wieder bei Kräften war. Glaube mir, am glücklichsten empfand ich den Tag, als ich ohne Hilfe das Bett verlassen konnte, wo ich mich wie eine Gefangene fühlte, obwohl alle gut zu mir waren,
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