Wiegenlied Roman
Vorgänge hatte Moritz Tage und Nächte in Angst verbracht. Er fürchtete, Elsa würde ihm unter den Händen fortsterben, unsagbar geschwächt von einer Krankheit, über die ihn niemand hatte aufklären wollen.
Der Arzt, den er schon seit seiner Kindheit kannte und der in dem einen langen Jahr, das Baronin Sophie für ihren qualvollen Abschied vom Leben benötigt hatte, ein ständiger Gast auf dem Gut gewesen war, hielt sich über Elsas Leiden bedeckt. Eine Zeit lang vermutete Moritz, Doktor Steinhausen wolle ihn mit der schlimmen Nachricht verschonen, dass die Frau, die er liebte, an der gleichen Krankheit sterben musste wie seine Mutter.
Doch der alte Arzt beruhigte ihn darüber glaubhaft, wohingegen Cecilie gewisse Andeutungen von sich gab, die Moritz sich schon allein deshalb verbat, um nicht in einer Flut von Selbstvorwürfen unterzugehen. Er gab sich ohnehin die alleinige Schuld für das, was sich zwischen Elsa und ihm in seiner Berliner Wohnung ereignet hatte. Er gab sich die Schuld daran, dass er es genossen hatte, obwohl mit Elsa doch alles ganz anders sein sollte.
Moritz schwang ein Bein über die Kruppe seines Trakehners und glitt aus dem Sattel. Er ließ das Pferd grasen und betrat den verwitterten Bootssteg, der, vom Schilf umwachsen, ins Wasser ragte.
Es hatte wahrhaftig haltlose Zeiten gegeben in seinem Leben. Sie verbanden ihn mit Wilhelm, dessen persönlicher Adjutant er gewesen war. Sie hatten Schauspielerinnen und Sängerinnen der Hofbühne besessen, Mädchen vom Chor und vom Ballett. Sie waren ihnen wie Freiwild vor die Flinte gelaufen. Nicht der geringste Skrupel hatte weder Wilhelm, noch ihn oder andere Mitglieder ihrer Jagdgemeinschaft davon abgehalten, ihr flüchtiges Vergnügen zu suchen.
Inzwischen begegneten sie sich nur noch selten. Erst mit Elsas Bekanntschaft verkehrte Moritz wieder öfter bei Hofe, von wo er sich zurückgezogen hatte, seit er Geschmack an der Verantwortung für das Gut gefunden hatte. Jedes Mal, wenn er Wilhelm traf, so zeigte dessen Verhalten gegen ihn etwas von der Wehmut einer gekränkten Geliebten, als hätte Moritz mit seinem Rückzug einen Verrat an ihm begangen. Moritz empfand diese Begegnungen, als blickte er in einen blinden Spiegel, der ihm einen Teil von sich zeigte, den er nicht gern besah.
Im Grunde konnte er es seiner Schwester kaum übel nehmen, dass sie schlecht von Elsa dachte, nur weil sie eine Schauspielerin war, denn sein vormaliges Treiben war ihr bei aller Diskretion nicht gänzlich verborgen geblieben. Im Übrigen jedoch war Cecilie vor allem ein so unglückliches Geschöpf, dachte Moritz, dass man ihrem Urteil über andere Menschen nicht trauen konnte.
Lieber glaubte er den kryptischen Erläuterungen Malvine von Hombergs, die Elsa von Geburt an kannte. Durch Elsas
Mutter, die Moritz zu seinem größten Bedauern nicht hatte kennenlernen dürfen, war Malvine von Homberg in den Besitz eines umfangreichen Wissens über Frauenleiden gelangt, mit dem sie alles erklären konnte, was mit Elsa vorgegangen sein könnte, wobei es ihr gelungen war, nur so weit ins Detail zu gehen, wie ein Mann es ihrer Meinung nach verkraften konnte. In allem war Malvines Anwesenheit ein Glück, und er würde ihr für immer dankbar sein, dass sie es ermöglicht hatte zu kommen, nachdem er, Elsas fiebrigen Bitten folgend, mit einem reitenden Boten ein Schreiben nach Marburg geschickt hatte.
Die Sonne stand jetzt über den Birken und wärmte sein Gesicht. Es war anzunehmen, dass Elsa nicht vor zehn aufstehen würde. Ihr Gesundheitszustand, sagte Cecilie, erlaube es inzwischen längst, sich wecken zu lassen, um den Gesetzen des Anstands zu genügen. Malvine von Homberg hatte es anders ausgedrückt.
»Künstler sind zuweilen in der Kompliziertheit ihres Charakters gefangen«, sagte sie. »Ihnen mit Klarheit und Nachsicht gegenüberzutreten ist durchaus hilfreich, besonders für die Unversehrtheit der eigenen Seele. Von den kleinen Egomanien, die ihre Künstlernatur ausmachen, sollte man sich keinesfalls in die Irre leiten lassen.«
Wie recht Madame von Homberg doch hatte! Moritz verließ den Steg, nahm die Zügel des Trakehners auf, der ihm vom Schilf aus ruhig entgegensah, und stieg in den Sattel. Elsa war die Frau, die er heiraten wollte. Seit sie dem Tod so nahe gewesen war, gab es nicht mehr den geringsten Zweifel daran, dass er sich ohne sie unendlich verloren empfinden musste. Vom Standesdünkel Cecilies würde er sich nicht beeinträchtigen lassen, und
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